Ein Blick auf die erweiterte Neuausgabe zu Jiro Taniguchis „Der spazierende Mann“
Der japanische Autor und Illustrator Jiro Taniguchi verstarb bereits vor mehr als vier Jahren, seine Werke sind jedoch zeitlos. Neben schreiber & leser veröffentlicht Carlsen regelmäßig Titel des international hochgeschätzten Künstlers. Seit Anfang März ist die erweiterte Neuausgabe zu Der spazierende Mann im deutschsprachigen Handel erhältlich.
Diese besticht dabei durch ein sichtbar größeres Format von 24,6 auf 17,7 Zentimeter sowie einen stabilen Hardcover-Einband. In dem Gesamtumfang von rund 240 Seiten sind zahlreiche kolorierte Passagen vorzufinden – mehr als dreißig Farbseiten sind zu zählen. Die Papierqualität ist spürbar hoch, das Papier ist weiß und von angenehmer Dicke. Die Bindung erscheint ebenfalls hochwertig. Für 25 Euro (D) ein vergleichsweise günstiges Sammlerstück, dessen Außenseite zudem mit einer Art Naturpapier-Haptik aufwartet.
Über die (neue) Veröffentlichung
Die Titelbezeichnung gibt den Inhalt des Mangas bereits prägnant wieder: Die Leserschaft begleitet einen namentlich unbekannten Mann, der den Protagonisten dieser episodisch aufgebauten Erzählung stellt, beim Spazieren. Ohne zu zögern, schlendert dieser durch die verschiedensten, ihm teils unbekannte, Gegenden – stets in ländlichen Gebieten gelegen. Fernab vom Trubel der Großstadt flaniert der Herr mittleren Alters durch nahezu unberührte Stellen Japans.
Flüchtige Begegnungen mit verschiedenen Tieren und Menschen sind ein zentraler Bestandteil dieser kurzen Spaziergänge, ebenso das Vordringen in bislang unbekannte Areale. Besonderer Fokus liegt auf dem Grünen, der Landschaft. Taniguchi drückt in den einzelnen Bildern der Geschichte eine unglaubliche Naturverbundenheit aus, die nicht zu beschreiben ist, sondern einfach mit dem eigenen Auge betrachtet werden sollte. Dies deckt sich mit dem angesetzten Erzählstil des Künstlers, der maßgeblich auf eben jener Optik aufbaut. Ausschweifende Dialoge sind nicht vonnöten, der Ausdruck liegt in den zahlreichen, zumeist großformatigen Zeichnungen. Diese sind mehrheitlich – durch weiße Ränder – in klar von einander abgegrenzte Panel gefasst, woraus ein sehr strukturierter Gesamteindruck resultiert.
Zudem wurde sich löblicherweise dazu entschieden, die Geschichte in der Original-Leserichtung zu veröffentlichen. Zuvor spiegelte der Verlag den Titel, um eine vermeintlich größere Zielgruppe zu adressieren. Nun ist erstmals die von Jiro Taniguchi angedachte Darstellung von Der spazierende Mann auf Deutsch erhältlich – inklusive den zweiunddreißig bislang unveröffentlichten Seiten.
Diese erstrecken sich auf die drei Kurzgeschichten Der Traum geht weiter, Ursprung und Illusion sowie Vollmond. Auch das initial im Juli 2003 im französischen Casterman-Verlag veröffentlichte Kapitel Zehn Jahre danach… ist erneut enthalten – nun allerdings inmitten der Original-Kapitel angeordnet. Die vollständig kolorierten Seiten wurden dabei aus dem Französischen übersetzt.
Insgesamt umfasst die erweiterte Neuausgabe einundzwanzig Kapitel sowie ein abschließendes Nachwort von dem mehrfach ausgezeichneten Filmregisseur Hirokazu Koreeda, dessen zahlreiche Produktionen regelmäßig auch im deutschsprachigen Raum erscheinen.
Der deutschsprachige Herausgeber Carlsen stellt allen an dieser Publikation Interessierten hier eine kostenlose Leseprobe bereit. Diese ist zudem über den offiziellen Webseiten-Eintrag, der die eingänglich erklärten Informationen zusammengefasst auflistet, abrufbar. Neben einer doppelseitigen Farbseite ist das gesamte erste Kapitel umsonst hinterlegt.
Über Jiro Taniguchi (1947–2017)
Jiro Taniguchi wurde 1947 in Tottori, Japan, geboren und gilt heute weltweit als einer der renommiertesten Mangazeichner. Seine Karriere als Zeichner startete er 1972 mit dem Manga »Kareta Heya«. Ab 1974 entstanden unter der Mitarbeit des Journalisten Natsuo Sekikawa Kriminalstorys, zu Beginn der 1980er Jahre schuf er mit Szenarist Carib Marley mehrere Boxergeschichten. An der Serie »Botchan no Jidai Kara« (dt. etwa »In der Zeit von Botchan«), einem Werk über das intellektuelle Leben in Japan gegen Ende des 19. Jahrhunderts, arbeitete der Zeichner ab 1986 und wurde mit Erscheinen des fünften Bandes im Jahr 1998 dafür mit dem Osamu-Tezuka-Culture-Award geehrt.
Neben weiteren Genre-Arbeiten wie »NY no Benkei« (übers. »Benkei in New York«, 1994) begann Taniguchi in den 1990er-Jahren seinen Geschichten einen persönlichen Ton zu geben und aus dem Alltäglichen heraus zu erzählen. So entstand neben »Inu o Kau« (dt. TRÄUME VON GLÜCK), einer einfühlsamen Schilderung des Sterbens eines Haustieres, die Kurzgeschichtensammlung »Aruku Hito« (dt. DER SPAZIERENDE MANN). 1994 folgte »Chichi no Koyomi« (dt. DIE SICHT DER DINGE), 1997 erschien der Band »Harukana Machi-E«, für den er auf dem internationalen Comicfestival in Angoulême 2003 als bester Szenarist ausgezeichnet wurde. Dieses Schlüsselwerk erschien unter dem Titel VERTRAUTE FREMDE 2007 bei Carlsen und wurde auch in Deutschland bereits zweimal prämiert: als »Comic des Jahres 2007« sowie - auf dem Comic-Salon Erlangen 2008 - mit dem Max-und-Moritz-Preis als »Bester Manga«. Weitere Titel folgten, darunter der autobiografisch inspirierte Band EIN TOD IM WINTER über einen aufstrebenden Manga-Zeichner, den es in die Metropole Tokio zieht, sowie DER KARTOGRAPH, eine im historischen Edo angesiedelte Geschichte.
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Jiro Taniguchi gilt heute weltweit als einer der renommiertesten Manga-Zeichner, dessen Werke auf Deutsch bei Carlsen und Schreiber und Leser erscheinen. Für einige Geschichten arbeitete er mit anderen Autoren wie Masayuki Kusumi (DER GEHEIME GARTEN VOM NAKANO BROADWAY und DER GOURMET) oder Autorinnen wie Hiromi Kawakami (DER HIMMEL IST BLAU, DIE ERDE IST WEISS) zusammen. Mit DIE WÄCHTER DES LOUVRE schuf Taniguchi 2014 ein großformatiges Album als Auftragsarbeit des Museum Louvre, das jährlich in Zusammenarbeit mit dem französischen Verlag Futuropolis berühmten Comickünstlern einen eigenen Blick auf die ehrwürdige Kulturinstitution gewähren lässt. Im Jahr 2016 erschien IHR NAME WAR TOMOJI, die Lebensgeschichte Tomoji Uchidas, die in den 1930er-Jahren den buddhistischen Shojushin-Tempel in Tachikawa gründete. Sensibel und eindringlich beschreibt Taniguchi ihre Kindheit und Jugend in einem Dorf am Fuße des Yatsugatake während der Taisho-Epoche (1912-1926).
2016 ehrte der Comic-Salon Erlangen den Künstler mit einer großen Ausstellung. Sein mit einer kleinen Rahmenhandlung versehener, komplett farbiger Bildband VENEDIG (der zunächst als Buchedition exklusiv für Louis Vuitton entstand), ist 2017 als reguläre deutsche Buchhandelsausgabe bei Carlsen erschienen.
Am 11. Februar 2017 verstarb Jiro Taniguchi im Alter von 69 Jahren. (© Carlsen Verlag GmbH)
Fazit
Es fasziniert wie das Alltägliche in dieser Geschichte so besonders wirkt. Das einfache Spazierengehen kuratiert Taniguchi als besonderen Akt – dabei benötigt es wenig Text, die Aussagekraft ist in den verschiedenen Bildabfolgen gegeben. Ob es überhaupt Text benötigt hätte, ist beinahe zu hinterfragen. Denn auch ohne Worte scheint dieser Manga zu erfassen. Womöglich wäre der virtuosen Visualisierung dadurch noch höhere Aufmerksamkeit zugekommen. Dennoch: Es handelt sich um ein besonderes Meisterwerk, das im Iyashikei-Segment zu verorten ist.
Diese – erweiterte – Neuausgabe von Jiro Taniguchis Der spazierende Mann begeistert. Sie ist ein weiterer wertvoller Teil des Vermächtnisses von eben diesem Ausnahme-Künstler Japans. Die erklärte Hardcover-Aufmachung bettet die Erzählung zudem stilgerecht ein. Darüber hinaus brilliert die deutschsprachige Präsentation durch ein hervorragendes Preis-Leistungsverhältnis.
Und nach dem Lesen? Da scheint ein Spaziergang eine naheliegende Wahl. Denn eines ist sicher: Taniguchi verstand es, seine Leserschaft zu bewegen – emotional wie wortwörtlich in diesem Falle. Während man selbst am Schlendern durch die eigene Wohngegend ist, oder fernab von dieser im Grünen, ist sicherlich Gelegenheit, erneut über die beeindrucke Darstellung des zunächst banal Erscheinenden nachzudenken.
Worten des verantwortlichen Programmleiters von Carlsen Manga folgend, darf sich die deutschsprachige Leserschaft auf weitere Neuauflagen von populären Titeln Taniguchis freuen. Wie informierten über die entsprechenden Aussagen zuvor an dieser Stelle. Sicher ist, dass der Künstler auch in nächster Zeit nicht in Vergessenheit geraten wird – und das zurecht.
Wir bedanken uns abschließend bei der Carlsen Verlag GmbH – sowohl für die freundliche Bereitstellung eines Belegexemplars, das diesen Artikel ermöglicht, als auch für das stetige Engagement, Werke von Jiro Taniguchi in dieser herausragenden Qualität zu veröffentlichen.