Interview mit Reprodukt: Über das aktuelle und zukünftige Manga-Segment des Verlags
Anlässlich der jüngsten Programmankündigungen von Reprodukt haben wir mit dem leitenden Verleger des Berliner Independent-Verlags, Herrn Dirk Rehm, ein Interview geführt. Thema unseres aufschlussreichen Austausches waren unter anderem die aktuellen Manga-Verschiebungen, das neu angekündigte Programm sowie mögliche Projekte für die Zukunft.
Im Folgenden präsentieren wir das ungekürzte Interview. Dabei sprechen wir Herrn Rehm mit seinem Vornamen, Dirk, an, während wir uns selbst mit MP abkürzen.
MP: Hallo Dirk! Wir freuen uns sehr, dass wir dich ein weiteres Mal zu einem Interview begrüßen dürfen. Lass uns direkt mit den Fragen anfangen.
Reprodukt feiert 30-jähriges Bestehen. Dazu möchten wir natürlich vorangestellt unsere herzlichsten Glückwünsche ausdrücken und dich kurz dazu befragen. Was bedeuten 30 Jahre Reprodukt für dich und an welchen oder welche Moment(e) der letzten drei Dekaden denkst du gern zurück?
Dirk: Danke! In diesen Tagen blicke ich besonders gern auf die Zeit in den Neunzigerjahren zurück, die wir auch als Aufbruch für die Berliner Comicszene verstanden haben. Es gab viele Ausstellungseröffnungen und Partys im Kreis der Zeichner:innen und Verlage sowohl in Ost- als auch in Westberlin. Viele spannende Begegnungen, wie sie aktuell aufgrund der Umstände natürlich besonders schmerzlich vermisst werden …
MP: Vor Kurzem habt ihr darüber informiert, dass neben GoGo Monster auch Yoshios Jugend und Shigeru Mizuki: Mangaka verschoben werden müssen. Kannst du unserer Leserschaft dazu ein paar Hintergrundinformationen geben und erklären, woran es liegt?
Dirk: Es handelt sich um Unwägbarkeiten, wie sie vorab nie hundertprozentig zu kalkulieren sind. Bei GoGo Monster hat uns die Druckerei spät informiert, dass sie aufgrund der komplexen Arbeit an Farbschnitt und Schuber mehr als 60 Tage Produktionszeit brauchen. Wir hatten mit vier bis sechs Wochen gerechnet. Im Falle von Yoshios Jugend und Shigeru Mizuki: Mangaka war die Belastung von Übersetzer:in und Redakteur:in zu hoch, die parallel noch an anderen Projekten gearbeitet haben. Wir haben dann beschlossen, den Druck rauszunehmen und die Deadlines zu verschieben. Also einfach nur aus logistischen Gründen, die schwerlich vorhersehbar waren, das kommt hin und wieder vor.
MP: Jetzt aber zum neuen Programm: Ihr habt mit Roter Schnee einen neuen Einzelband angekündigt. Der Autor und Zeichner, der 2007 verstorbene Susumu Katsumata ist hierzulande bislang weitgehend unbekannt – worauf dürfen sich die Fans freuen? Wem empfiehlst du den Titel?
Dirk: Wie im Vorschautext beschrieben, handelt es sich um einen Blick auf das ländliche Japan an der Schwelle zur Moderne. Susumu Katsumata, der in Tôhoku, einer Bergregion im Nordosten des Landes großgeworden ist, erzählt in kurzen Episoden Geschichten, die auf seinen Kindheitserinnerungen basieren und ein Japan beschreiben, das von den Traditionen der Vorfahren bestimmt wird.
Das Buch ist vor allem für Leser:innen interessant, die sich für ein Japan vor der industriellen Revolution interessieren, für Mythen und Legenden des ländlichen Japans – die Kulturgeschichte des Landes.
MP: Mittlerweile ist ja offiziell, dass Reprodukt die Lizenz an Shigeru Mizukis Kitaro erwerben konnte. Wir sind von der Großartigkeit der Reihe bereits überzeugt – aber was hat dich als Verleger dazu bewegt, den Titel in den deutschsprachigen Raum zu holen? Warum sollte man, deiner Meinung nach, vielleicht gerade diesem Werk von Herrn Mizuki Beachtung schenken?
Dirk: Wir betrachten uns als Autorenverlag und schon bevor wir vor drei Jahren mit der Veröffentlichung der ersten Manga von Shigeru Mizuki begonnen haben, haben wir natürlich in Betracht gezogen, auch Kitaro herauszubringen. Man kann sich darüber streiten, ob die Reihenfolge der Veröffentlichungen gut gewählt ist, aber uns war es wichtig, Shigeru Mizuki – oder auch Yoshiharu Tsuge – als Zeichner von Manga für eine erwachsene Leserschaft vorzustellen, bevor wir uns an das breitere Spektrum ihres Schaffens heranwagen.
Kitaro ist die bekannteste Figur von Shigeru Mizuki, der seine Geschichten reich mit fantastischen Gestalten aus dem japanischen Volksglauben bevölkert. Schon in Tante NonNon berichtet er von der eigenen Kindheit an der Seite seiner Ersatz-Großmutter, die ihm Geschichten von den Yokai erzählt. Shigeru Mizuki reicht diese Erzählungen bis an sein Lebensende an seine Leser:innen weiter und trägt somit dazu bei, eine japanische Tradition aufrechtzuerhalten.
Die Bedeutung von Kitaro für die japanische Kultur – weit über den Manga hinaus – kann nicht genug betont werden. Ohne Shigeru Mizuki wäre der Erfolg von Pokémon so wenig vorstellbar wie die Popularität von Hayao Miyazaki und seiner Filme wie Mein Nachbar Totoro oder Prinzessin Mononoke.
MP: Das Kitaro-Franchise ist aufgrund der historischen Umstände für viele undurchsichtig. Erkläre uns daher bitte einmal, was – nach aktuellem Stand – alles auf Deutsch erscheinen wird? In der Ankündigung ist von 13 Bänden die Sprache.
Dirk: Wir folgen der Ausgabe, die bei Kodansha erschienen ist und 13 Bände umfasst – zum Teil aufgefüllt durch redaktionelles Material. Dabei handelt es sich um die neueste japanische Ausgabe, in der – im Gegensatz etwa zur spanischen oder US-amerikanischen Version – Graustufen zum Einsatz kommen, die optisch eine größere Tiefe in den Bildern bewirken. Hier und da werden auch ursprünglich kolorierte Zeichnungen in Graustufen wiedergegeben. Es war uns wichtig, den Gesetzmäßigkeiten des deutschen Marktes zu entsprechen und so gibt es nun die ersten „klassischen“ Manga-Taschenbücher bei uns – mit jeweils 192 schwarz- weißen Seiten im Kleinformat.
MP: Ihr listet Kitaro für unglaubliche 6,90 Euro (D) pro Band? Wir haben tatsächlich zweimal schauen müssen, ob das euer Ernst ist. Handelt es sich um einen Einführungspreis oder plant ihr tatsächlich, die gesamte Reihe so günstig herzugeben? Und wenn ja, wie kommt dieser niedrige Preis zustande? Von wesentlich größeren Verlagen ist die Leserschaft ähnliche oder noch höhere Preise gewöhnt.
Dirk: Das ist jedenfalls der Preis für die ersten drei Bände. Ob wir den Preis später anheben müssen, hängt dann natürlich auch davon ab, ob sich genügend Käufer:innen finden. Der Anspruch jedenfalls war, einen günstigen Preis zu bieten, so dass sich auch jüngere Leser:innen die Kitaro-Taschenbücher leisten können.
MP: Außerdem erscheint der dritte Band von Igorts Berichte aus Japan auf Deutsch. Geplant ist außerdem eine Schuber-Ausgabe, die alle drei Bände beinhaltet. Für alle, die Igort und seine Aufzeichnungen noch nicht kennen: Würdest du einmal das Wissenswerte um seine Publikationen zusammenfassen und beurteilen, inwiefern diese auch für Manga-Leser:innen interessant sein könnten?
Dirk: Igort hat, als einer der ersten europäischen Comiczeichner, in den Neunzigern für Kodansha gearbeitet (wie auch etwa Baru oder Matthias Schultheiß). Der Auftrag war für ihn Anlass, das Land zu besuchen und zu bereisen. Er hat sich ein tiefgreifendes Wissen über die japanische Kultur angeeignet, wenn auch sehr aus einer westlichen Perspektive. Ihn haben die Schnittstellen zwischen östlicher und westlicher Kultur interessiert. Er stellt Künstler wie Yasujiro Ozu, Ryuichi Sakamoto, Katsuhiro Otomo, oder Suehiro Maruo vor, die auch in unserer westlichen Kultur ihre Spuren hinterlassen haben. Insofern öffnet er ein Fenster in die japanische Kultur einfach nur ein bisschen weiter und seiner Begeisterung lässt sich leicht folgen.
Der oben erwähnte französische Zeichner Baru hat im Auftrag von Kodansha Autoroute du Soleil geschaffen – eine Art Road Trip durch das Frankreich der Neunzigerjahre (auf mehr als 400 Seiten). Das Buch erscheint bei uns im August in einer Neuausgabe.
MP: Daran anschließend: Die geplante Box zu Igorts Berichte aus Japan scheint nur komplett befüllt erhältlich zu sein, oder? Wenn dem so ist, warum hat man sich dazu entschieden?
Dirk: Ja, den Schuber gibt es nur komplett befüllt, weil wir mit dem Verkauf von leeren Schubern in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen gemacht haben. Zum einen sind die Leerschuber sehr fragile Objekte, die schnell Schaden nehmen. Zum anderen nehmen sie viel Lagerfläche ein, die Geld kostet und sich nicht oder kaum rentiert.
MP: Nun noch ein abschließender Blick in die Zukunft. Wir haben dich bereits vergangenen November zu einer möglichen Neuauflage von Suehiro Maruos Der lachende Vampir und der deutschsprachigen Veröffentlichung von dessen Fortsetzung befragt. Zu diesem Zeitpunkt hast du dein verlegerisches Interesse an Projekten rund um den Autoren bekundet, konntest aber noch nichts konkretes sagen. Mittlerweile sind einige Monate vergangen, daher fragen wir erneut: Wie steht es um dieses Vorhaben?
Dirk: Dazu gibt es noch nichts Neues, wir schreiten in Sachen Gekiga und Manga nur langsam voran. Wir haben ja auch noch ein Programm mit Comics aus dem europäischen und US-amerikanischen Sprachraum zu bestreiten.
MP: Außerdem: Ihr habt bisher hauptsächlich „klassische“ Gekiga-Werke von Künstlern lizenziert, die vor allem mit dem Garo-Magazin assoziiert werden. Es gibt einige spirituelle Nachfolger des Magazins, insbesondere AX, in dem sowohl altbekannte Mangaka aus Garo als auch viele neue Talente vertreten sind. Diese moderneren, „alternativen Manga“ unterscheiden sich häufig sehr stark von den hierzulande bekannten Gekiga. In Deutschland gibt es bisher keine Veröffentlichungen der Werke alternativer Mangaka wie Nishioka Kyoudai (Kafka, Kami no Kodomo), Akino Kondoh (Hakoniwa-Mushi, Eiko), Shinya Komatsu (Suiton Kikou) oder Kurzgeschichtensammlungen verschiedener Autoren, wie man sie aus dem Englischen durch Glaeolia (Glacier Bay Books) oder AX: alternative manga (Top Shelf Productions) kennt. Siehst du dahingehend Potential für den deutschen Markt und eine mögliche Erweiterung eures Manga-Programms?
Dirk: Ich freu mich sehr, dass ihr diese alternativen Manga wahrnehmt! Tatsächlich bilden sie das Spektrum von Autor:innen ab, für die ich mich sehr interessiere. Auch in Sachen Yoshiharu Tsuge oder Susumu Katsumata arbeiten wir mit Mitsuhiro Asakawa zusammen, vormals AX-Redakteur und Herausgeber der US-amerikanischen Ausgabe. Eine Erweiterung soll es nach Möglichkeit genau in diese Richtung geben, ein „Potenzial“ – interpretiert als „finanziell lohnenswert“ – sehe ich darin aber eher nicht. :)
MP: Vielen Dank, dass du dir die Zeit und Muße für die Beantwortung unserer Fragen genommen hast!