Besprechung zu „Yoshios Jugend“ – über Yoshiharu Tsuges Kurzgeschichten zwischen 1972 und 1987
Im Manga-Segment von Reprodukt finden sich seit mehr als zwei Jahren auch Titel von Yoshiharu Tsuge, der insbesondere durch seine Publikationen im Avantgarde-Magazin Garo in ausgesuchten Publikumskreisen große Bekanntheit erlangte. Nachdem der Berliner Independent Publisher zuletzt sowohl Rote Blüten als auch Der nutzlose Mann auf Deutsch verlegte, folgte mit Yoshios Jugend nun ein weiterer Kurzgeschichten-Sammelband.
Im Original wurde das Werk unter der Bezeichnung Yoshio no seishun・Betsuri (jap.: 義男の青春・別離) 1998 vom japanischen Shinchosha-Verlag herausgegeben. Die deutschsprachige Fassung ist zum 26. Oktober für 24,00 € in den Handel gekommen. Reprodukt gibt den Manga im Flexcover mit leicht wachsartiger Beschichtung der Außenseite heraus – wie auch bereits die anderen beiden erwähnten Tsuge-Titel.
Darüber hinaus sind das Front- und Backcover an ausgewählten Stellen wieder mit einem Spotlack veredelt. Je nach Lichteinfall werden die Schriftzeichen 義男の青春 und つげ義春 sichtbar – Yoshio no seishun und Tsuge Yoshiharu. Vorn und hinten ist jeweils eine Doppelseite in einem rot-weißen Farbschema enthalten. Das Nachwort umfasst ebenfalls farbige Abbildungen.
Inhaltsbeschreibung
Bei dem vorliegenden Werk handelt es sich, wie eingangs angesprochen, um eine Kurzgeschichtensammlung. Diese beinhaltet verschiedene Werke, die Tsuge vorwiegend zwischen April 1972 und September 1987 angefertigt hat. Unter anderem ist Die Trennung (jap.: Betsuri), die bislang letzte Arbeit des zurückgezogen lebenden Künstlers, in der vorliegenden Zusammenstellung enthalten. Der Band beinhaltet:
- Traumspaziergang (jap.: 夢の散歩, April 1972)
- Sommererinnerung (jap.: 夏の思いで, September 1972)
- Zur Untermiete (jap.: 下宿の頃, Januar 1973)
- Der Unfall (jap.: 事件, April 1974)
- Yoshios Jugend (jap.: 義男の青春, November 1974)
- Der Job (jap.: アルバイト, Januar 1977)
- Leben am Kap Komatsu (jap.: コマツ岬の生活, Juni 1978)
- Das anschwellende Außen (jap.: 外のふくらみ, Mai 1979)
- Gegrillter Tintenfisch-Griff (jap.: 必殺するめ固め, Juli 1979)
- Yoshibos Verbrechen (jap.: ヨシボーの犯罪, September 1979)
- Die Hände am Fenster (jap.: 窓の手, März 1980)
- Der Junge (jap.: 少年, Juli 1981)
- Der Gecko (jap.: やもり, September 1986)
- Zum Meer (jap.: 海へ, März 1987)
- Die Trennung (jap.: 別離, 06. September, 1987)
In der titelgebenden Geschichte geht es um den jungen Yoshio Tsube, das Alter Ego des Künstlers, der in der Nachkriegszeit sein Dasein als erfolgloser Manga-Zeichner fristet. Gerade befindet er sich in einer tiefen Schaffenskrise, von seiner Mutter wird er trotzdem fortlaufend zum Arbeiten angetrieben – die Haushaltskasse ist leer. Probleme mit dem Stiefvater vervollständigen das familiäre Übel.
Das rund 70 Seiten lange Kapitel thematisiert die verschiedenen Schwierigkeiten eines Kreativen im Japan der späten Fünfziger, die nicht nur von der unberechenbaren Muse, sondern auch der allgemein herrschenden Armut ausgehen. In seiner Verzweiflung nimmt der unerfahrene Yoshio schließlich eine Assistentenstelle bei einem anderen Zeichner an, der sich als unzuverlässiger Tunichtgut herausstellt …
Während diese und ein paar der anderen Geschichten merklich autobiographisch angelegt sind, sind in Yoshios Jugend auch mehrere von Tsuges Traum-Geschichten enthalten. Das Nachwort von Garo-Redakteur und Manga-Forscher Mitsuhiro Asakawa klärt dahingehend über die jeweiligen Entstehungszusammenhänge der verschiedenen Kapitel auf.
Visualisierung
Die in der vorliegenden Zusammenstellung enthaltenen Kurzgeschichten sind über einen Zeitraum von fast vierzig Jahren entstanden – das spiegelt sich stilistisch natürlich entsprechend wieder. Der Mangaka hat glücklicherweise darauf verzichtet, einzelne Kapitel für den vorliegenden Taschenbuch-Release neu zu zeichnen. Dadurch ist den Zeichnungen der individuelle Zeitgeist nahezu ungefiltert erhalten geblieben.
Bei Der Job (jap.: アルバイト), das Tsuge laut Signatur wohl am 07. Mai 1950 fertiggestellt hat, ist das zehn Seiten umfassende Geschehen beispielsweise nur sehr grob skizziert. Obwohl die Darstellung in Folge zunächst irritiert, ist gerade dieses Kapitel von besonderem Wert – so handelt es sich dabei sicherlich um eine der frühsten Arbeiten des mittlerweile 84-Jährigen. Erstmals wurde diese 1977 im Rahmen eines Sonderbeitrags abgedruckt. Auch Das anschwellende Außen (jap.: 外のふくらみ) ist im Stil noch deutlich abstrakter, aber gerade dadurch etwas Besonderes.
Gleichwohl ist die Bebilderung der übrigen Kapitel nicht weniger gelungen, aber sie ist deutlich professionalisierter und der interessierten Leserschaft in dieser Form sicherlich bereits von den anderen beiden angesprochenen Tsuge-Titeln, Rote Blüten und Der nutzlose Mann, bestens bekannt. Der Mangaka setzte bei seinen späteren Arbeiten, wie er es im Zuge seiner Assistenten-Tätigkeit bei Kitaro-Mangaka Shigeru Mizuki verinnerlicht hatte, auf eine präzisere Strichführung, mit welcher er mitunter ganze Landschaften und Häuserzeilen herausbildete.
Der Manga richtet sich nicht nur inhaltlich, sondern auch im optischen Sinne an ein reifes Publikum, Herausgeber Reprodukt weist korrekterweise darauf hin, dass „sexualisierte Gewaltfantasien“ (mehrfach) Teil von Yoshios Jugend sind und empfiehlt den Sammelband aufgrund dessen auch erst ab 18 Jahren zum Lesen. Nicht umsonst wird Tsuge im Allgemeinen der Gekiga-Bewegung – dem Bestreben, ernsthafte Manga zu zeichnen – zugeordnet.
Im Handel ist das Buch aufgrund der erklärten Altersempfehlung mit einem entsprechenden Hinweis auf der Rückseite eingeschweißt, das Durchblättern ist in der Regel also nicht möglich. Allerdings sind auf der offiziellen Verlagswebseite mehrere Innenseiten zur kostenlosen Ansicht hinterlegt. Diese sind dem titelgebenden Kapitel entnommen.
Über Yoshiharu Tsuge
Yoshiharu Tsuge, geboren 1937 in Tokio, begann seine Laufbahn als Mangaka, indem er Geschichten für Leihbuchhandlungen entwickelte, die im Japan der Nachkriegszeit aufgeblüht waren. In den frühen 1960er-Jahren begann er, erste Arbeiten für die avantgardistische Zeitschrift „Garo“ zu zeichnen, die es ihren Autoren ermöglichte, ohne redaktionell abgesteckte Grenzen mit neuen Erzählmethoden zu experimentieren. Diese neu gefundene Freiheit erlaubte es ihm, ein Genre zu entwickeln, in dem autobiografische und fiktionale Elemente eine neue Form der Authentizität hervorbringen – es trägt bald den Namen „Watakushi-Manga“ („Ich-Comic“).
Zusammen mit Yoshihiro Tatsumi (“Gegen den Strom”, Carlsen Verlag) erneuerte er die japanischen Comics, indem er Geschichten über das reale Leben einführte und sie mit wahrhaftigen Charakteren besetzte. Es sind häufig blasse, unauffällige Gestalten – in jedem anderen Comic wären es Randfiguren –, die seine Comics bevölkern.
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Zwischen 1965 und 1970 veröffentlichte er Erzählungen mit starken surrealen Elementen: “Verschraubt” (“Neji Shiki”) aus dem Jahr 1968 war in Japan ein großer Erfolg. Mit der Veröffentlichung von “Rote Blüten” (“Akai Hana”) in Françoise Moulys und Art Spiegelmans “Raw” im Jahre 1985 wurde Yoshiharu Tsuge auch international wahrgenommen. Später führte eine tiefe persönliche Krise dazu, dass er sich aus dem öffentlichen Leben zurückzog. Seit 1987 hat Yoshiharu Tsuge keinen neuen Manga veröffentlicht. (© Reprodukt)
Fazit
In Yoshios Jugend wird der Leserschaft eine Vielzahl von Tsuges Kurzgeschichten präsentiert, die zwischen April 1972 und September 1987 zum ersten Mal veröffentlicht wurden. Neben klar autobiographischen Handlungen sind andere Kapitel eher vage an Tsuges damalige Lebensumstände angelehnt. Er hat sich zwar von Persönlichem inspirieren lassen, dies aber zugleich mit einer Spur Fiktion versehen – oder gewisse Tatsachen neu arrangiert, um so eine künstlerische Realität zu erwecken.
Auf Träumen basierende Geschichten ergänzen die Auswahl der insgesamt 15 Oneshots. Das Nachwort von Garo-Redakteur und Manga-Forscher Mitsuhiro Asakawa klärt fachkundig über die entsprechenden Entstehungshintergründe auf und belegt diese jeweils mit Originalaussagen von Mangaka Tsuge selbst. Ein vorangestellter Text des japanischen Philosophen Toshiaki Kobayashi ordnet Tsuge und die Bedeutung seiner Arbeiten zuvor in den historischen Kontext Japans ein. Nora Bierich hat den Titel samt der Zusatzinhalte merklich sprachgewandt aus dem Japanischen ins Deutsche übertragen.
Naturalismus, wie in dem titelgebenden Yoshios Jugend, und Surrealität, wie beispielsweise in Die Hände am Fenster (jap.: 窓の手), verschmelzen in der vorliegenden Zusammenstellung aber nicht nur handlungstechnisch, sondern auch optisch. Das trifft auch auf die „sexualisierten Gewaltfantasien“ zu, raue Erotik ist – wie bei vielen Gekiga-Künstlern – auch in Tsuges Titeln ein wiederkehrendes Thema. Aber auch das gattungstypische Sujet von Erfolg und Lebenszufriedenheit im weiteren Sinne greift der Mangaka hier, wie schon in Der nutzlose Mann, mehrfach gekonnt auf.
Nachkriegswehen, daraus resultierende Armut und die damit einhergehende Verzweiflung sowie unbeständige Liebe prägen viele der einzelnen Erzählungen Tsuges. Alkohol und Tabak runden diese Tristesse in einigen Fällen noch ab. Eine der Kurzgeschichten beschäftigt sich darüber hinaus mit dem Suizid in Folge einer gescheiterten Beziehung – dies ist ein weiteres der Kapitel, denen autobiographische Züge zugrunde liegen.
Yoshio no seishun, Betsuri by Yoshiharu Tsuge © Yoshiharu Tsuge 1998 · All rights reserved / SHINCHOSHA | Foto & Bearbeitung: © Reprodukt
Herausgeber Reprodukt hat sich produktionstechnisch an den beiden bereits erschienenen Kurzgeschichtensammlungen Tsuges orientiert. Das mehr als 400 Seiten starke Werk ist als Flexcover mit einer wachsartig beschichteten Buchaußenseite gefasst. Die Bindung scheint im Vergleich zu herkömmlichen Manga-Veröffentlichungen deutlich hochwertiger. Die 24,00 € sind mitnichten günstig, aber sie sind für Interessierte bestimmt gut investiert.
Bei unserem Belegexemplar hat sich oben zwar teilweise die Klebung gelöst, Folgeschäden hat das allerdings nicht herbeigeführt. Wir gehen davon aus, dass es sich dabei um einen Einzelfall handelt – sicherheitshalber empfehlen wir aber natürlich, das vor dem Kauf beziehungsweise vor dem Auspacken zu überprüfen.
Abschließend bedanken wir uns herzlich bei Reprodukt für die unverbindliche Zurverfügungstellung eines Belegexemplars.