Besuch im „Salon der grafischen Literatur“: Manga-Boom in Deutschland
Der „Salon der grafischen Literatur“ ermöglichte bereits zum vierten Mal Comic- und Graphic-Novel-Interessierten aus dem Buchhandel, dem Journalismus- und Pädagogikbereich sowie dem Bibliothekswesen den direkten Austausch mit Verlagsrepräsentanten, Autor*innen und Zeichner*innen. Insgesamt stellten 17 Verlage ihr Programm für die kommenden Monate vor, berichteten in Panel-Talks über ausgewählte Werke, Ziele und Entstehungsprozesse und luden auf der im Innenhof der Bibliothek am Luisenbad im Berliner Stadtteil Wedding ausgerichteten Verlagsmesse an ihren Ständen zum Schmökern und Nachfragen ein. Vor allem die Entwicklung der Manga-Branche stellte diesmal einen besonderen Fokus dar. Das Medium um die vielschichtigen Schwarz-Weiß-Comics aus Japan gewann in den letzten zehn Jahren erheblich an Bedeutung und Sichtbarkeit.
Messestände auf dem Innenhof der Bibliothek am Luisenbad, Foto: © Manga Passion, 05/2022
Völlig meschugge?! – Manga als Coping
Noch vor der großen Podiumsdiskussion, die sich diesmal unter dem Titel „Boom auf dem deutschen Mangamarkt“ eben jenem Erfolgskurs innerhalb der Branche widmen wollte, stellte Illustratorin Melanie Garanin ihre Graphic Novel Völlig meschugge?! vor – die auf einer sechsteiligen Fernsehserie beruhende Geschichte von Autor Andreas Steinhöfel ist bereits beim Carlsen Verlag erschienen. Garanin hat sich jedoch nicht nur storytechnisch stark an der Serienvorlage orientiert, die jungen Protagonist*innen sind optisch ebenfalls an ihre realen Vorbilder angelehnt und sofort erkennbar. So auch Hamid, der mit seiner Familie aus Syrien nach Deutschland geflüchtet ist, sich an seiner Schule regelmäßig mit dem Rassismus seiner Mitschüler*innen konfrontiert sieht und seine Erfahrungen mit eigenen Manga-Geschichten verarbeitet. David Füleki, der den Manga-Fans hierzulande vermutlich über das bei TOKYOPOP erschienene Demon Mind Game bekannt sein dürfte, half bei den entsprechenden Passagen, die Garanin später noch einmal in ihrem Stil für das finale Werk nachzeichnete und anpasste.
3 Bilder
„Manga-Boom in Deutschland“ – eine Diskussionsrunde mit 6 Verlagen
Von besonderem Interesse für die Manga-Community dürfte aber die vom Veranstalter als Highlight angekündigte Diskussionsrunde mit den Manga-Publishern gewesen sein, bei der sechs Vertreter*innen bekannter Verlagshäuser gemeinsam über Erfolge der letzten zehn Jahre, Erwartungen an die Zukunft und eigene Schwerpunkte berichtet haben. Kulturredakteurin und Comic-Kritikerin Andrea Heinze vom rbb Kulturradio übernahm die Moderation und leitete die Diskussionsrunde.
Teilgenommen haben:
- Marco Walz für Egmont Manga
- Dr. Joachim Kaps für altraverse
- Claudia Jerusalem-Groenewald für Carlsen Manga!
- Jenny Franz für Cross Cult bzw. Manga Cult
- Patrick Peltsch für KAZÉ Manga
- Dirk Rehm für Reprodukt
Nach einer einleitenden kurzen Vorstellung wurden die Verlage gebeten, in ein paar Sätzen zu beschreiben, worin der Schwerpunkt ihrer Arbeit besteht und was sie als Publisher in besonderer Weise auszeichnet. Während sich Carlsen Manga! und Egmont Manga als „Gemischtwarenladen“ verstehen, der möglichst alle Altersgruppen bedienen und viele unterschiedliche Genres abdecken möchte, zielt Manga Cult nach eigener Aussage eher auf Nischen-Comics für eine meist erwachsene Käuferschaft ab. „Kultige Klassiker“ in hochwertiger Ausstattung möchte man auf den Markt bringen, aber eine zukünftig stärkere Tendenz zu kommerzielleren Titeln schließe man ebenfalls nicht aus. So gilt zum Beispiel vor allem Demon Slayer aktuell als absoluter Verkaufsschlager des Ludwigsburger Labels.
Joachim Kaps hingegen sieht in altraverse die Möglichkeit, aus engen Verlagskorsetten ausbrechen zu können, zu experimentieren und „über das Buch hinaus“ zu arbeiten. Bereits vor der Verlagsgründung 2017 arbeitete der heutige altraverse-Chef mit und bei verschiedenen großen Häusern und fühlte sich häufig von den unterschiedlichen Vorstellungen eingeengt. Vor allem die Zusammenarbeit mit der deutschsprachigen Zeichnerszene sei ihm ein Herzensprojekt.
Mehr Freiheit war auch Grund für den Carlsen Verlag, als 2021 das Label Hayabusa ins Leben gerufen wurde. Man wolle mit Hayabusa eben nicht den Mainstream oder das Graphic Novel-Publikum bedienen, für das Carlsen bereits steht, sondern einen stärkeren Fokus auf „kräftigere“, „heftigere“ Geschichten und Boys Love setzen. KAZÉ wiederum will sich crossmedial vermarkten. Manga sei ein „zweiter Weg“, den der vor allem durch die Produktion von Anime bekannte Publisher neben Games und Kino-Projekten zukünftig ausbauen möchte.
Einen starken Kontrast stellt allerdings der kleine Berliner Verlag Reprodukt dar, der sich ganz klar auf ein erfahreneres Publikum konzentriert und mit ausgewählten Themen, wie Existenzängsten, Krisen, Horror und Passion auf Graphic Novel-Leser*innen und Gekiga-Fans abzielt.
„Wir sind doch hier!“ – Wandel und Sichtbarkeit
Doch woher kommt das scheinbar plötzliche Interesse der Buchindustrie am Medium Manga? Während 2010 der Manga-Markt einen Umsatz von 24 Millionen Euro generieren konnte, lag dieser 2021 schon bei 76 Millionen Euro. Laut Peltsch nicht erst ein Phänomen der letzten Zeit. „Manga boomt schon immer.“ Einen jährlichen Anstieg in den Verkaufszahlen können die Verlage seit mindestens zehn Jahren beobachten. Veränderungen im Konsumverhalten und in der Sichtbarkeit seien hier besondere Triebfedern, denn vor allem Anime beflügeln den Mangakauf extrem. Was früher mit Nachmittagsprogrammen im Fernsehen begann, wird jetzt durch große Streamingdienste wie Netflix und Crunchyroll befeuert. „Ein Brennglas“, das auch Erstleser*innen regelmäßig anzieht.
Diese Sichtbarkeit wird aber auch durch den lokalen Handel nach außen getragen. Während sich die Buchbranche lange über einen stetigen Schwund der Leserschaft durch die Einflüsse des Streamings und Gamings beschwerte, muss der Mehrwert des Comics nach wie vor häufig erklärt und gerechtfertigt werden. „Wir sind doch hier!“, so die Verlage – alle Anwesenden sind sich einig, dass Manga der Schwundproblematik entgegenwirken kann. Und obwohl der zugestandene Platz in den Filialen der großen Handelsketten wächst, zeigen sich noch immer Hindernisse. Fachkräfte fehlen. Ebenso das Verständnis. Jeder Platz im Regal ist hart erkämpft. Die Lösung liegt hier glücklicherweise in der Kundschaft. „Manga-Leser*innen wissen genau, was sie wollen. Plötzlich werden aktiv Leseguides vom VLB (Verzeichnis Lieferbarer Bücher) angefragt.“ Ein Wandel in der Bereitschaft ist sichtbar, die wirtschaftliche Zugkraft nicht länger zu übersehen.
© 2020 battan. / Kodansha Ltd.
Doch Probleme zeigen sich nicht nur in den Erwartungen der Händler. Innerhalb der Szene wird teilweise nach wie vor in E(rnst)- und U(nterhaltung)-Kultur, in „gut“ und „schlecht“, unterschieden. Der Wert der Kunst wird immer noch an ihrer Unnahbarkeit gemessen. Und während Comics, Manga oder auf Zerstreuung und Entertainment ausgelegte Geschichten oft auf missbilligendes Naserümpfen und Kopfschütteln treffen, wird vielen Graphic-Novel-Vertretern mit politischem, historischem oder psychologischem Fokus widerstandslos ein Mehrwert zugesprochen. „Das wird dem Medium nicht gerecht, das muss man sein lassen!“ Dass Mangaserien ganze Ausstellungen füllen, Literaturpreise gewinnen und über das Medium Buch hinaus zunehmend an Bedeutung gewinnen darf nicht unterschätzt werden. „Ältere Leute stören sich auch noch immer an der ungewohnten Leserichtung der Comics“, so Carlsen. Sie erkennen den Sinn dahinter und die vermittelten Lebenswelten nicht. Manga ist auch eine Jugendkultur.
In Frankreich gäbe es die Trennung nach „guten“ und „schlechten“ Comics nicht. Man sei dort deutlich offener. Das spiegelt sich auch im Angebot und der Verlagsanzahl wider. „Der deutsche Manga-Markt hängt ja auch immer hinterher. Es gab jahrelang nur Egmont und Carlsen, das hat zu Trägheit geführt.“, sagt Kaps. „Es braucht mehr Player.“ Der französische Markt hat inzwischen über 30 Verlage mit einer Manga-Ausrichtung vorzuweisen, jeder mit eigenem Schwerpunkt und Spezialisierungen. Laut Walz ein Vorteil jüngerer Verlage, die häufig ein klareres Profil haben. Das klare Profil schätzt auch Rehm bei seinem Verlag Reprodukt. 2003/2004 versuchte er sich an Der lachende Vampir, doch die Käufer*innen blieben aus. „Das waren die Comics, die ich machen wollte, aber das war wohl zu früh.“ Mittlerweile kann der Berliner Publisher auf eine jährliche Umsatzsteigerung von 2 – 5 % blicken. Die Nachfrage nach solchen Titeln steigt. Das begründet Carlsen zum Teil auch mit der Leserschaft, die mit dem Medium seit Anfang der Neunziger mitgewachsen ist und nun die Auswahl daher um Künstler*innen wie Eldo Yoshimizu weiter ergänzen. Unabhängig von starren Unterteilungen nach „guten“ und „schlechten“ Comics greifen Kunden und Kundinnen zu Geschichten, die mit einem Entwicklungsabschnitt assoziiert werden, den sie selbst durchleben oder durchlebt haben.
„Leser*innen begreifen instinktiv, dass das gut gemacht ist“
Doch worin liegt der besondere Reiz am Medium Manga für junge Menschen? Marktführer Carlsen nennt die Abenteuerlust und die damit verbundene Dynamik am Beispiel des Bestsellers One Piece. Junge Leser und Leserinnen können und wollen sich mit den Figuren identifizieren. Nicht grundlos verzeichnen die Geschichten um die heranwachsenden Piraten oder der clevere Detektiv Conan, den Egmont Manga 2001 ins Rennen schickte, bereits 100 Bände in Deutschland. Für Tokyo Ghoul, der erfolgreichsten Serie aus dem Hause KAZÉ Manga, nannte der Tagesspiegel „die Lust am Ekel“ und die Faszination am Grusel als mögliche Erklärungen für die anhaltende Begeisterung, aber Peltsch verweist auch auf die außergewöhnliche Tiefe und die Gemeinsamkeiten zu Hermann Hesses Entwicklungsroman Demian, der im Manga selbst zitiert wird. „Leser begreifen instinktiv, dass das gut gemacht ist“, und das spiegelt sich zwangsweise in der wachsenden Nachfrage nach diesen Manga wider. „Die Leute kaufen teilweise alle zwölf Bände einer Reihe gemeinsam“, meint Kaps, der Meine Wiedergeburt als Schleim in einer anderen Welt und auch dessen Novel als Beispiel für hervorragendes Worldbuilding nennt. „Der Autor macht sich irre Gedanken, er konstruiert die Welt.“
Abenteuer, Tiefe und geschickte Weltenkonstruktion – ist das das Erfolgsrezept? Manga muss nicht kompliziert sein. Viele Charaktere erfolgreicher Serien seien laut Walz „stereotyp angelegt". So auch beim Verkaufsgaranten Chainsaw Man, das seit 2020 bei dem Berliner Verlag Egmont Manga beachtliche Erfolge erzielt. „Ich habe das auf MANGA Plus wegen des Titels gesehen und erst als Witz abgetan“, so Walz. Doch neben sehr viel Absurdität kombiniert der Titel auch düstere Themen einzigartig. Die Geschichten und Charaktere seien eben nicht nur auf diese Stereotypen reduzierbar, sondern bringen alle auch einen Twist mit. Das begeistert nicht nur junge Leser*innen, überrascht und macht die erwähnte Identifikation dennoch nicht unmöglich. Man fühlt sich ernst genommen und findet sich gleichzeitig wieder. Ein Bedürfnis, dem vermutlich jede Zielgruppe Relevanz zuspricht. Ebenso unsere sechs anwesenden Verlage und sind sich daher einig: „Manga wird auch weiterhin boomen!“