Besprechung zu Suehiro Maruos „Midori – Das Kamelienmädchen“
Herausgeber Reprodukt hat mit dem ersten Band von Der lachende Vampir erstmals 2004 ein Werk von Suehiro Maruo auf Deutsch veröffentlicht, Midori – Das Kamelienmädchen sollte 2006 folgen – aufgrund wirtschaftlicher Umstände wurde die ursprünglich geplante Veröffentlichung jedoch nie realisiert. Mehr als 15 Jahre später, parallel zum Start der Der lachende Vampir-Neuausgabe, ist der Einzelband nun doch erschienen. Wir haben den kontrovers diskutierten Manga gelesen und berichten euch im Folgenden von unseren Eindrücken.
Der Titel ist offiziell Anfang Mai in den Handel gekommen. Weil allerdings nur vergleichsweise wenige Läden überhaupt Reprodukt-Titel führen, kann es nötig sein, eine gesonderte Bestellung aufzugeben – mit der ISBN-Nummer 978-3-95640-327-9 sollte das bei größeren Geschäften und Buchhandelsketten in der Regel ohne Probleme gelingen. Alternativ empfiehlt es sich, eine Bestellung über den verlagseigenen Online-Shop aufzugeben. Das unterstützt den kleinen Independent-Publisher.
Beim deutschsprachigen Release wurde sich für eine großformatige Aufmachung im Flexcover entschieden. Im Gegensatz zu den Yoshiharu-Tsuge-Werken ist die Buchaußenseite glatt. In dem rund 150 Seiten starken Gesamtumfang sind zu Beginn mehrere Farbseiten enthalten, diese sind, wie das früher durchaus üblich war, in Rot-Schwarz-Weiß gehalten. Preislich liegt der Titel bei 20,00 €, eine E-Book-Fassung ist nicht angekündigt.
Inhaltsbeschreibung
Nachdem ihr Vater abgehauen und ihre Mutter verstorben ist, wurde Midori von einem zwielichtigen Mann angeworben. Seitdem ist sie Teil einer reisenden Freak Show, einer Art Zirkus mit verschiedenen Körperkünstlern. Obwohl es damit eine Unterkunft und Arbeit gefunden hat, ist das junge Mädchen todunglücklich. Die deformierten Gestalten und ihr befremdliches Verhalten versetzen Midori jede Nacht in Schrecken.
Erst als sich der kleinwüchsige Masamitsu, ein Schlangenmensch, der Truppe anschließt, keimt in ihr Hoffnung auf eine bessere Zukunft auf. Der Mann ist bei der Menge äußerst beliebt und hat daher einen vergleichsweise guten Verdienst, außerdem interessiert er sich für die Zwölfjährige. Midori hat dahingehend keine Bedenken, sie erkennt in seinem Interesse eine Chance, der Hölle zu entkommen. Doch alles kommt anders …
Visualisierung
Im Original wurde Midori – Das Kamelienmädchen zwischen August 1983 und Juni 1984 unter dem Namen Shoujo Tsubaki (少女椿) veröffentlicht, den Entstehungszeitraum sieht man den Zeichnungen entsprechend an. Trotz des mitunter konfusen Storytellings, ist der Bebilderung im Prinzip ohne Schwierigkeiten zu folgen.
Aus technischer Sicht sind die Illustrationen schön anzuschauen, die Linien sind gerade gezogen und warten stellenweise mit kleinen Details auf. Beim Seitenaufbau ist ebenfalls ordentlich gearbeitet, die Panels sind sauber voneinander abgetrennt. Durch großflächige Darstellungen wird zugleich Monotonie im Lesefluss vorgebeugt, es ist genug Abwechslung in der Anordnung der verschiedenen Panels geboten. Im Charakterdesign liegt darüber hinaus ein gewisser Retrocharme, der gut mit dem historischen Setting zusammenspielt.
Dieser besondere Flair einzelner Zeichnungen ist jedoch erst im Nachhinein zu erkennen, während des Lesens dominiert auf der Bildebene vor allem die Exzentrik. Immer wieder werden Gewalt und Sexualität zusammengeführt – befremdlich, aber zugleich ein zentraler Pfeiler von Suehiro Maruos Stil. Eine Optik in dieser Form ist hierzulande kaum bekannt. Aufgrund dessen wird der Manga auch ab 18 Jahren empfohlen.
Der Einzelband ist seitens des Herausgebers eingeschweißt. Selbst wenn der Manga also im Handel des Vertrauens verfügbar ist, kann vor dem Kauf in der Regel nicht reingeblättert werden. Auf der offiziellen Verlagswebseite stehen allerdings ein paar Innenseiten zur freien Ansicht bereit. Aber Achtung: Diese sind ausschließlich einem erwachsenen Publikum vorbehalten.
Über Suehiro Maruo
Suehiro Maruo (Jahrgang 1956) brach frühzeitig die Schule ab und hielt sich zunächst mit Ladendiebstählen über Wasser. Als Achtzehnjähriger entdeckte er sein Interesse fürs Zeichnen, das er sich selbst beibrachte. Seine frühesten Arbeiten, die er bei dem Magazin “Weekly Shonen Jump” des japanischen Verlagshauses Shueisha einreichte, wurden prompt abgelehnt, denn seine düsteren, phantastischen Geschichten wollten nicht in die Welt des kommerziellen Mainstream passen. Erst fünf Jahre später wagte er einen neuen Versuch, diesmal mit erotischen Manga, unablässig auf der Suche nach künstlerischen Freiheit. In der Tradition japanischer Holzschnittarbeiten des 19. Jahrhunderts schrieb und zeichnete er Geschichten über Axtmörder, Abtreibungen, Vergewaltigungen und Inzest – dargereicht mit gerade so viel graphischem Detail wie es die Zensur der siebziger Jahre erlaubte.
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[Französisch] Videomitschnitt vom 41. Festival International de la Bande Dessinée d'Angoulême / 2014
Aber Maruo ist kein typischer Zeichner von Sex und Gewalt, er gilt heute als einer der bekanntesten Manga-Zeichner, der sich in seinen Arbeiten auch immer wieder mit dem frühen Nachkriegsjapan beschäftigt. Viele seiner Geschichten wurden zunächst in dem alternativen Magazin “Garo” veröffentlicht, bevor sie als Buch erschienen, und seine Arbeiten sind von einer Eleganz und Perfektion, deren Pendant vielleicht am ehesten in den Zeichnungen eines Charles Burns zu finden ist. Seine Themen umfassen ein weit größeres Spektrum als bei erotischen Manga üblich, seine Bücher werden in aufwändiger Ausstattung veröffentlicht und seine Lithographien verkaufen sich zu hohen Preisen. Zu Suehiro Maruos bekanntesten Arbeiten gehören “Midori – Shojo Tsubaki” und “Planet of the Japs”.
Mit “Warau Kyuketsuki – Der lachende Vampir”, vorabgedruckt im “Young Champion”-Magazin und als Buch bei Akita Shoten veröffentlicht, erschien der erste Manga von Suehiro Maruo bei Reprodukt. (© 2022 Reprodukt, Berlin.)
Fazit
Bei Midori – Das Kamelienmädchen handelt es sich auf jeden Fall um kein Alltagswerk, inhaltlich wie visuell bewegt sich Mangaka Suehiro Maruo in einer sehr eigenen Stilrichtung, die im Allgemeinen dem Ero-Guro-Segment zugerechnet wird. Die Geschichte zeichnet sich zudem durch historische Anklänge aus, sowohl die Freak Show selbst als auch die Kleidung der Figuren spiegeln eine längst vergangene Zeit wider. Damit wird sich grundlegend von der heutigen Lebenswirklichkeit abgegrenzt und eine leicht schaurige Atmosphäre geschaffen.
Einigen ist die Geschichte sicherlich bereits als grauenvoll-groteske Schöpfung voller grenzüberschreitender Szenarien, wie Gewalt am Tier und (anklingender) Missbrauch am Mensch, bekannt – und in der Tat ist sich auf Entsprechendes einzustellen. Inwiefern das in der vorliegenden Form schockiert, hängt jedoch stark von individuellen Merkmalen ab.
In Midori – Das Kamelienmädchen wird in der Hauptsache ein unsagbares Drama um die junge Protagonistin transportiert, aufgrund der Darstellung kommt beim Lesen allerdings keine Empathie auf. Die, wie wir finden, größte Stärke des Mangas mag für manche zugleich die größte Schwäche sein: die inneliegende Vieldeutigkeit. Durch die offene Erzählweise sind einzelne Abläufe nur schwierig nachvollziehbar, auch ein zweiter Blick auf die entsprechenden Seiten verschafft häufig keine eindeutige Aufklärung. Einiges verlangt in Folge nach Interpretation durch das Publikum.
Sofern die Leserschaft bereit ist, sich mit analytischem Geist in diese durch und durch bizarre Erzählwelt zu begeben, kann Midori – Das Kamelienmädchen durchaus auf einer Metaebene unterhalten. Der Wert ergibt sich unserer Meinung nach nicht unmittelbar aus den Inhalten, sondern vielmehr aus der anschließenden Reflexion darüber. Auf 150 Seiten bietet die Geschichte mehr Diskussionsansätze als so manche Reihe mit zehn Bänden und mehr. Zum einfach Durchblättern ist der Titel dagegen nicht ausgelegt.
Abschließend bedanken wir uns herzlich bei Reprodukt für die unverbindliche Zurverfügungstellung eines Belegexemplars.