Interview mit Carlsen Manga! – erstes Halbjahr 2022, Shoujo- und LGBTQ-Manga
Passend zum Ende des ersten Halbjahrs durften wir ein ausführliches Interview mit Kai-Steffen Schwarz, dem Programmleiter des Hamburger Verlags Carlsen Manga!, führen. Dabei waren unter anderem das momentane Shoujo-Segment, das LGBTQ-Programm und auch Osamu Tezuka Thema.
Nachfolgend werden wir Kai-Steffen Schwarz mit Kai und uns selbst mit MP abkürzen.
MP: Hallo Kai und danke, dass du dir erneut Zeit für uns nimmst.
Kai: Moin! Aber gerne doch … 😊
MP: Fangen wir ganz klassisch an: Wie lief das erste Halbjahr für euch? Was lief eventuell weniger gut und was wollt ihr im zweiten Halbjahr (noch) besser machen?
Kai: Was die Beliebtheit unseres Manga-Programms betrifft, sind wir in Summe aktuell sehr glücklich und zufrieden, die Umsätze liegen erneut deutlich über Vorjahr – Hauptursache dafür sind vor allem die anhaltenden Erfolge der Top-Serien. Der direkte Vergleich über die ersten fünf Monate zu Vorjahr hinkt ein klein wenig, da es Anfang 2021 ja noch einige Wochen „Corona-Shutdown“ mit Ladenschließungen gab. Die Neustarts aus 2022 haben bisher im erwarteten Rahmen abgeschnitten. Es gibt natürlich Titel, die nicht so laufen wie ursprünglich mal erhofft, aber das sind eigentlich die gleichen wie im Vorjahr, etwa Blue Giant, 12 Jahre, Sunny oder Murciélago. Was wir besser machen wollen: z. B. beim nächsten One Piece-Leerschuber vorher sicherzustellen, dass auch die Exemplare der ersten Auflagen mit dickerem Papier hineinpassen! Was seit einigen Monaten immer schwieriger wird, angesichts der Lieferengpässe bei Papier und mitunter eruptiv steigenden Druckkosten, ist die Vorab-Planung der Produktion – die muss immer früher angeschoben werden, z. B. um Papiermengen und Auftrags-Slots in den Druckereien zu sichern. Verglichen mit der Situation kleinerer Verlage und anderen internationalen Märkten geht es uns aber noch gut.
MP: Wie sieht es mit dem Markt allgemein aus? 2021 war ja ein Rekordjahr, kann 2022 da mithalten?
Kai: Auf den ersten Blick: Ja, mehr als das sogar, der Manga-Marktumsatz ist in den ersten fünf Monaten weiter deutlich gestiegen, verlagsübergreifend um rund 60 Prozent. Vornehmlich sind es die Top 15-Serien, die zum Teil aufgrund medialer Sondereffekte (etwa durch Anime-Adaptionen) den größten Teil des Anstiegs verursachen. Doch auch jenseits der großen Blockbuster gibt es einige schöne Erfolge zu vermelden. Es freut uns sehr, dass auch viele neue Leserinnen und Leser Manga als Medium für sich entdeckt haben. Das laufende „Manga-Jahr“ kann im weiteren Verlauf noch sehr spannend werden: Einerseits könnten sich Produktions- und Lieferketten-Probleme verschärfen, andererseits stehen noch so manche Highlight-Starts für die nächsten Monate an – bei uns z. B. Mashle (ab August) oder Sakamoto Days (ab Herbst), um hier mal nur zwei Titel zu nennen. Bei der Beurteilung des Manga-Marktes muss man genau darauf schauen, welchen Anteil haben mediale Hype-Themen (einen großen) und wie entwickeln sich die Inhalte und die Leserschaft strukturell: Das Angebot wird vielfältiger und es stoßen neue Leser*innen dazu – was aber nicht heißt, dass sich automatisch alles gut verkaufen lässt, wo „Manga“ draufsteht.
MP: Was waren eure Bestseller und welche Titel könnten deiner Meinung nach noch etwas mehr Aufmerksamkeit vertragen – und warum?
Kai: Bisher liegen 2022 die üblichen Verdächtigen vorne, wie Attack on Titan (mit dem Abschlussband nebst Schuber), One Piece, Naruto Massiv, My Hero Academia und Dragon Ball, sowohl die Massiv-Edition wie auch Dragon Ball Super. Bei One Piece hat uns die Nachfrage nach Band 100 kurzzeitig überrollt: Aufgrund der diversen Promo-Aktivitäten rund ums Jubiläum hatten wir die Startauflage zwar deutlich erhöht, diese sollte ja (wie wir mal dachten) einige Monate ausreichen – der Jubel-Band wurde dem Handel jedoch so schnell aus den Fingern gerissen, dass wir hier schon nach wenigen Wochen komplett auf Grund waren. Die eiligst beauftragte 2. Auflage ist ebenfalls bereits weg, die dritte soll Ende Juli eintreffen. Naruto Massiv läuft weiter herausragend, dazu gesellt sich der Rekord-Launch von Tokyo Revengers.
Mehr Aufmerksamkeit verdient hingegen hätten grundsätzlich die Arbeiten einheimischer Künstler*innen (wie etwa Focus 10, BL is Magic! oder München 1945), meiner Ansicht nach aber auch Titel wie Asadora! von Naoki Urasawa – trotz und auch gerade wegen des historisch anderen Settings und der ungewöhnlichen Hauptfigur ein Must-Read mit tollem Storytelling und clever gesetzten Suspense-Momenten. Und auch für Hen Kai Pan und Eldo Yoshimizus Werke Ryuko und Gamma Draconis möchte ich an der Stelle gerne noch einmal trommeln. Wir freuen uns riesig darüber, dass es ihm als einer der ganz wenigen japanischen Mangaka gelungen ist, nach Europa zu reisen und zur Signiertour nach Deutschland zu kommen. Schon länger wollte er seine deutschen Fans treffen und da er selbständig (d. h. in Japan auch nicht verlagsgebunden) arbeitet und agiert, sind wir schlicht begeistert darüber, wie offen und engagiert er hier für seine Fans zeichnet und signiert.
MP: Aktuell stattet ihr einige Titel wie Yakuza goes Hausmann, Undead Unluck und Tokyo Revengers mit Erstauflagen-Extras aus. Wie legt ihr fest, welcher Titel etwas erhält? Kannst du vielleicht schon ein paar Titel nennen, die in Zukunft ebenfalls ein Extra erhalten sollen?
Kai: Wir schmeißen in der Redaktionsrunde den Würfel und … Nein: Das liegt jeweils am Engagement und an der Kreativität der Redaktion und unserer Herstellung – jeder und jede im Team überlegt sich, ob – und wenn ja, welche – Extras sich im Sinne betreuter Serien anbieten. Vor allem muss passendes Bildmaterial verfügbar sein, die Produktion der Extras zuvor kalkuliert und vor allem der Lizenzgeber überzeugt werden. Das heißt nicht, dass diese Ideen grundsätzlich abblocken würden, aber je nach Serie und konkreter Idee benötigen exklusive Extras (sofern sie möglich sind) eben mal mehr, mal weniger Überzeugungsarbeit, bzw. Genehmigungsbedarf. Manche Idee mussten wir bereits verwerfen, z. B. weil die Kalkulation nicht machbar war oder weil sie uns leider nicht genehmigt werden konnte. Umso begeisterter sind wir natürlich, wenn uns dann besondere Dinge wie der Metall-Print im Attack on Titan-Schuber (mit den Bänden 31 – 34) oder z. B. die regelmäßigen Extras in jedem zweiten My Hero Academia-Band erlaubt werden.
MP: Für das kommende Programm habt ihr einen ganzen Strauß an verschiedenartigen Werken, von Shounen-Serien wie Mission: Yozakura Family und Sakamoto Days bis Special-Interest-Titel wie Satoshi Kons Kaikisen – Zurück ins Meer, angekündigt. Welche Lizenz liegt dir persönlich ganz besonders am Herzen – und warum?
Kai: Erstmal vorweg: Wir gestalten unser Programm für die Leserinnen und Leser, denen müssen unsere Bücher gefallen. Als Carlsen-Manga!-Redaktion stehen wir hinter allen Titeln im Programm – jede Serie und jeder Einzelband hat hier seine Fürsprecher*innen, wir stehen zusammen und als Verlag für Vielfalt, lizenzieren also nicht nach Schablone.
Ich bin persönlich nicht auf nur ein Segment abonniert, jeder Titel hat eigene Qualitäten. Von den Neustarts würde ich mal diese herauspicken: Sakamoto Days aufgrund des tollen Mixes aus Humor und Action, Under Ninja wegen Kengo Hanazawas Gnadenlosigkeit bei der Umsetzung menschlicher Charaktere und seinem bisweilen skurrilem Hyperrealismus. Dann würde die Neueditionen von Neon Genesis Evangelion und Dragon Head hochhalten, weil schöne Ausgaben dieser Neo-Klassiker schon länger überfällig sind. Schließlich noch Kaikisen, weil der leider viel zu früh von uns gegangene Regisseur Satoshi Kon nicht nur betörende Anime, sondern auch einige großartige Manga erschaffen hat.
MP: Uns ist aufgefallen, dass ihr im Bereich Romance für das neue Programm einzig auf My Senpai is Annoying setzt und keinen neuen Shoujo-Titel angekündigt habt. Wie dürfen die Leser:innen das deuten?
Kai: Die Leser*innen dürfen das so deuten, dass wir im aktuellen Halbjahr für dieses Segment wenig Titel für vielversprechend gehalten bzw. keine passenden Lizenz-Zusagen bekommen haben. Einerseits gibt es ja noch einige laufende Serien bzw. Neuausgaben, andererseits hatten zuletzt andere Bereiche Priorität bei uns. Bei der Titel-Gesamtzahl wollen wir uns nicht übernehmen; wenn dann einige Bereiche stärker als zuletzt „bestückt“ werden, dann müssen wir uns bei anderen eben etwas zurückhalten – und Hayabusa als weiteres Label ist ja auch noch am Start. Es heißt also definitiv nicht, dass wir das „Romance“-Segment bei Carlsen Manga! nun aufgeben, wir haben unseren Radar weiterhin aufgespannt. Auch hier gilt aber, dass wir auf der Suche nach tollen und möglichst originellen Stoffen sind.
MP: Mit Cruella: Der Manga – Black, White & Red und Die Eiskönigin 2: Der Manga werden bald zwei Disney-Manga bei euch auf Deutsch erscheinen. Wie kam es dazu, dass ihr euch nun diesem Segment zuwendet? Was ist dahingehend bereits für die nächsten Jahre geplant?
Kai: Carlsen hat in anderen Verlagsbereichen, wie dem Kinder- und Jugendbuch- sowie im Nelson-Imprint, ja bereits viele Disney-Themen im Programm, z. B. die Villains-Romane. Einige Disney-Manga sind über die Jahre bereits bei Egmont erschienen, Marvel- und Star Wars-Titel bei Panini. Manche Disney-Manga gab es bisher aber nur in anderen Sprachfassungen, bei Cruella und Die Eiskönigin 2 haben sich für uns nun Möglichkeiten aufgetan. Wir finden diese Adaptionen ziemlich schön und gelungen und können uns gut vorstellen, weitere Disney-Manga ins Programm zu holen. Falls aus der Community Wünsche in dieser Richtung geäußert werden, haben wir offene Augen und Ohren, mehr kann ich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht sagen.
MP: Ein weiteres Thema von euch ist Junji Ito. Für die Zukunft sind mit Lovesickness: Liebeskranker Horror, Sensor und Frankenstein drei weitere Titel des Mangakas bei euch angekündigt. Soweit wir das mitbekommen haben, sind die bisherigen Deluxe Editions allesamt Bestseller. Ist also davon auszugehen, dass ihr über kurz oder lang alle seine Werke auf Deutsch veröffentlichen werdet?
Kai: Junji Ito ist tatsächlich ein Phänomen! Ich möchte nicht schon über Jahre hinaus Versprechungen abgeben, aber ich kann versichern: Wir möchten seine Werke nun zügiger als bisher pflegen, aktuell mit zwei neuen Bänden pro Halbjahr. 😊
MP: Für das Herbst-/Winterprogramm 2022/23 habt ihr außerdem die Lupin III (Lupin the Third) - Anthology lizenziert. In Japan ist inzwischen ein zweiter Band erscheinen. Wie stehen die Chancen, dass ihr diesen – oder die komplette Manga-Reihe – nach Deutschland holt?
Kai: Ehrlich gesagt hatten wir ursprünglich – d. h. bei unserer Vorankündigung der ersten Anthologie – gar nicht auf dem Schirm, dass in Japan ein zweiter Band dieser Art kommen würde, den haben wir inzwischen natürlich im Blick. Ein bisschen speziell – und eben klassisch – ist der Originalmanga natürlich schon, weshalb wir bisher nicht geplant hatten, die ganze Serie zu bringen, sondern eben gezielt die Anthologie mit ausgewählten Geschichten. Wir schauen erstmal, wie der erste Sammelband ankommt.
MP: Du hast in der Vergangenheit im Comicforum einmal geschrieben, dass ihr gerne Neuauflagen verschiedener Jiro-Taniguchi-Titel herausgeben möchtet. Wie sieht es inzwischen damit aktuell aus, kannst du unseren Leser:innen schon erste Details dazu verraten?
Kai: Bei Taniguchis Werken sind wir – wie ähnlich auch andere Verlage im Ausland – seit geraumer Zeit dabei, das zu klären. Es dauert länger als gedacht, was leider dazu führt, dass einige seiner beliebtesten Titel aktuell nicht verfügbar sind. Wir sind aber guter Hoffnung, in dieser Frage bald Licht am Ende des Tunnels zu sehen.
MP: Nachdem ihr mit MW und Die Geschichte der 3 Adolfs im letzten Programm zwei Titel von Osamu Tezuka lizenziert habt, gab es diesmal keine neue Ankündigung zum Astro Boy-Schöpfer. Können sich Fans in Zukunft dennoch auf weitere Lizenzen des Manga no Kamisama freuen?
Kai: Tezuka-Werke zu verlegen, ist meistens eher eine Frage von „Ruhm und Ehre“. Viele seiner klassischen Geschichten haben es auf dem deutschen Markt schwer, das Publikum dafür ist leider ziemlich klein. Gleichwohl räumen wir – neben Neuinterpretationen von anderen Zeichnern (wie Pluto von Urasawa & Nagasaki oder Search & Destroy von Kaneko) – einigen seiner Original-Werke durchaus Chancen ein. Wir schauen uns Tezukas Arbeiten immer wieder mal an; es ist aber zu früh, hier konkreter zu werden.
MP: In den neueren Programmen hattet ihr fast jedes Mal Nachschub im LGBTQ+-Bereich. Im frisch angekündigten Programm fehlt dahingehend aber der Nachschub. Plant ihr, hier in Zukunft wieder Titel in der Richtung zu bringen? Und wie läuft dieses Segment ganz allgemein betrachtet bisher bei euch?
Kai: Wir sind sehr froh darüber und stolz darauf, Werke wie Wer bist du zur blauen Stunde? (von Yuhki Kamatami), Der Mann meines Bruders und Unsere Farben (von Gengoroh Tagame) oder Yunas Reise zum Ich (von Yuna Hirasawa) verlegen zu dürfen!
Die Verkäufe sind auch zufriedenstellend. Mit Der Filmriss – meine Flucht vor der Realität steht ja auch in Kürze das nächste Buch von Kabi Nagata an. Dass fürs Winterprogramm von uns keine Neustarts in diesem „Segment“ angekündigt sind, liegt eher an unseren Ankündigungs-Zeiträumen: Kurz davor, im September, startet ja Boys Run The Riot von Keito Gaku, von dem im Winter zwei weitere Bände kommen werden. Manga sind einer jener medialen Bereiche, in denen Geschlechter- und Identitätsthemen wirklich sehr besonders, authentisch und respektvoll behandelt werden, daher werden wir hier auch in Zukunft nach inhaltlichen Perlen Ausschau halten.
MP: Worauf dürfen sich Fans eventuell noch im zweiten Halbjahr freuen?
Kai: Hoffentlich auf eine schöne Sommer-, vielleicht sogar Urlaubszeit? In jedem Fall warten viele schöne neue Manga auf Euch, und natürlich auch Events wie z. B. die AnimagiC in Mannheim. Dort werden wir mit einem Stand vor Ort sein und haben dazu auch einige einheimische Mangaka für Signierstunden und Events eingeladen, darunter auch Dominik Jell mit seinem Debütwerk Mortalis. Wir freuen uns schon sehr darauf, dort den Manga-Fans live und in Farbe zu begegnen: „United again!“ 😊 Danach steht dann Ende August der erste Manga Day an, auf den wir auch schon sehr gespannt sind. Und wenn uns die Corona-Lage keinen Strich durch die Rechnung macht, stehen Richtung Herbst ja auch noch weitere Events an.
MP: Hast du zum Abschluss noch ein paar Worte?
Kai: Vielen Dank für Eure Unterstützung, habt einen schönen Sommer! Love & peace!
MP: Vielen Dank für deine Zeit.
Kai: Es war mir wie immer eine Freude.