Was Gekiga-Manga sind und weswegen diese mehr Aufmerksamkeit verdienen
Der westliche Markt erfand vor einigen Jahren die Begrifflichkeit der Graphic Novel. Mit diesem Term hoffte, und es gelang tatsächlich, die Branche der Comic-Publizisten das Klischee des Kindes, des Jugendlichen – simpel: der Heranwachsenden – als einzige Comic-Leser abzulegen. Stattdessen galt es zu expandieren und das erwachsene Publikum, die potentiell gut situierte Leserschaft, zu gewinnen. Dieser galt es selbstverständlich entsprechend reife Inhalte anzureichen und diese mit einem Label, einem Namen, zu versehen, der Klasse vermittelte und der entsprechenden Kundschaft zugleich Gefühl gab einer exklusiven Gruppe anzugehören. Gemäß dem Motto: „Ich lese Graphic Novel, denn Comic (und damit sei auch das japanische Pendant Manga und dessen ostasiatischen Verwandte, den Manhwa aus Südkorea und den Manhua aus China gemeint) ist für Kinder und bietet ohnehin keinen geistigen Anspruch.“
Um fair zu bleiben: die genauen Intentionen der Verleger sind natürlich unbekannt. Dennoch scheint es, dass eine Graphic Novel stets mit gefestigten Inhalten assoziiert werden, die über das Alltägliche hinausgehen und den Horizont der Leserschaft in besonderer Art und Weise erweitern sollen. Deutsche Verlagshäuser ignorierten bislang allerdings recht weitgehend, dass sich in Japan bereits Ende der Fünfziger-Jahre ein sinnverwandter Begriff zu etablieren begann, der später für jene ernste Inhalte symbolisch stand: Gekiga.
Graphic Novel und Gekiga trennt eigentlich wenig. Im gegenwärtigen Sprachgebrauch referiert die Graphic Novel jedoch auf internationale Autor*innen, während Gekiga dies auf japanische Kunstschaffende begrenzt. Man mag an dieser Stelle anmerken, dass der Carlsen-Verlag, wie auch Schreiber & Leser, etliche Graphic Novels von japanischen Künstlern verlegten. Die zahlreichen Werke des verstorbenen Jiro Taniguchi seien stellvertretend als Beispiel erwähnt. Das ist richtig. Denn Taniguchi gilt als Vertreter der moderneren Gekiga-Manga. Zwecke der Vermarktung sind vermutlich für die Bezeichnung als Graphic Novel verantwortlich. Löblich ist jedoch Schreiber & Leser zu erwähnen, die zumindest auf ihrer offiziellen Webseite Taniguchi als renommierten Gekiga-Vertreter benennen. Eine eindeutige Gekiga-Kategorie ist allerdings zu vermissen.
Was ist nun unter einem Gekiga zu verstehen? Wörtlich meint Gekiga zunächst einmal dramatische Bilder und referiert im Wesentlichen auf einen Manga, den japanischen Comic, der ein älteres Publikum adressiert und sich von bekannten, trivialen Inhalten bewusst abwendet. Es gilt, etwas Anspruchsvolles dem ebenso anspruchsvollen Publikum gegenüber zu unterbreiten. Der Begriff geht auf Yoshihiro Tatsumi zurück, der mitunter als Großvater von alternativen Manga bezeichnet wird. Eine exakte Definition des Begriffes liegt nicht vor.
In Japan erkannte man diese ausgesuchten Präferenzen einiger Leser bereits früh und gründete 1964 das Garo-Magazin. Diese Zeitschrift veröffentliche noch bis 2002 regelmäßig Geschichten. Während der Begriff Gekiga heutzutage nur noch selten als Marketingschlagwort verwendet wird, ist das Bedürfnis erwachsene, reife Geschichten in Manga-Form zu vermitteln mittlerweile in den zahlreichen Seinen- und Josei-Magazinen präsent wie nie zuvor.
Es ist selbstverständlich auch möglich zu diskutieren, ob Gekiga lediglich als Segment von Graphic Novels verstanden werden könnte. Folglich könnte man Manga aber auch als Comic listen. Als begeisterter Leser der südostasiatischen Medien, möchte ich beides nicht. Reprodukt listet seine Gekiga-Werke zumindest als Manga und erkennt damit an, dass Grapic Novels doch viel eher als westliches Produkt durch westliche Künstler*innen zu verstehen sind. Da jener kleine, aber nicht weniger engagierte, Verlag aktuell keine traditionellen Manga, damit meine ich Werke für ein jüngeres Publikum, publiziert, sei diese Kategorisierung als ausreichend zu betrachten.
Nach dieser – zugegeben ausführlichen – Einführung, sollen nun die Vorteile von Gekiga besprochen werden. Diese führen schließlich in eine Zusammenfassung und einen abschließenden Appell an die deutschsprachige Verlagskultur.
Gekiga, mit seiner Blütezeit zwischen den späten Fünfziger- und Achtziger-Jahren des letzten Jahrhunderts, behandelt häufig wiederkehrende Themen. Darunter die wirtschaftliche Rezession, aber auch Krieg und der Alltag eines Kunstschaffenden zur Shouwa-Ära. Shigeru Mizuki setzte zudem stets Akzente der japanischen Folklore in seinen Werken um.
Damit offenbart sich bereits der erste Reiz an Gekiga-Werken: der kulturelle Hintergrund. Liebhaber der japanischen Werke sind zumeist nicht weniger an dem Entstehungsland interessiert. Wie das moderne Japan aussieht, das zeigen Online-Recherchen schnell. Doch wie sah Japan noch vor fünfzig oder sechzig Jahren und auch den folgenden Jahrzehnten aus? Das ist eine Frage, die Gekiga-Manga durchaus beantworten können.
MIZUKI SHIGERU: BOKU NO ISSHÔ WA GEGEGE NO RAKUEN DA 1 © 2019 Mizuki Productions © Reprodukt
Zeitzeugen wie Shigeru Mizuki erzählen in ihren Werken von ihren Eindrücken der Vergangenheit. Häufig offenbart diese sich als schockierend für den westlichen Leser. So berichten die Künstler*innen von Zuständen, die häufig aus der Weltwirtschaftskrise resultierten: Armut, Hunger und Elend. Trotz der dargestellten Situationen liegt es den Erzählenden fern zu klagen – es wird als gegeben (und vergangen) dargestellt. Bereits diese Haltung impliziert womöglich eine japanische Denkweise …
Eine allumfassende Interpretation von Gekiga gibt es nicht, diese sind Werk-spezifisch und selbst einzeln betrachtet häufig sehr kafkaesk. Zumindest auf einen ersten – und vielleicht auch zweiten – Blick. Diese dramatischen Bilder fordern die Leserschaft zu der aktiven, reflektierten Beteiligungen während des Lesens auf. Es genügt üblicherweise nicht, den Inhalt nur zu konsumieren – es wird erwartet, diesen in Relation zu setzen. Heute, mehrere Jahrzehnte nach Entstehung, mag dies noch schwieriger sein als für die damaligen Leser sein. Als Europäer ohne Geschichtskunde in Japan, wie auch Fernost im Allgemeinen, ohnehin.
Um dieses Defizit auszugleichen, sei interessierten Lesern geraten, über die jeweiligen Autoren zu recherchieren, bevor das Werk begonnen wird zu lesen. Zumeist offeriert die Website des deutschen Verlags bereits einige wertvolle Informationen, teilweise auch direkt im Buch – auf einer Klappe beispielsweise. Ebenso, wie auch in gewöhnlichen Manga, annotieren Verleger hierzulande die Werke für das Publikum, sodass das vermutete Defizit bestmöglich ausgeglichen wird.
Somit ist ein erster Vorteil zu notieren. Gekiga sind keine Literatur trivialer Natur, sondern bestechen durch ihre ernsten Themen. Damit offenbart sich ein Zweig japanischer Comic-Kunst, der noch immer viel zu wenig Aufmerksamkeit erhält. Die Leserschaft wird eingeladen, in das Japan Mitte des letzten Jahrhunderts einzutauchen, das hektische, moderne Leben zu vergessen und eine andere Welt zu erleben, die die eigene Existenz bereichert.
Gekiga generieren Emotionen bei der Leserschaft. Diese sind allerdings nur jenen vorbehalten, die sich auf die Geschichte und den kulturell-historischen Hintergrund einlassen und die Erzählung vollends auf sich wirken lassen. Dies mag vielleicht nicht jedem möglich sein, doch der exklusive Genuss, der euch potentiell erwartet, ist das Lesen eines Gekiga wert.
Weiterhin, und erneut am Beispiel Mizuki – so ist dieser doch der prominenteste Vertreter dieses Sujets -, ist auf den kulturellen Wert Augenmerk zu richten: die japanische Folklore. Mizuki gilt hierbei nicht grundlos als Vaterfigur der japanischen Folklore. Ein Lebenswerk, das unter anderem die eigene Märchenkultur der Inselnation vor dem Vergessen bewahrte. Insbesondere mit Tante NonNon aus dem Reprodukt-Verlag kommt auch das deutsche Publikum in den Genuss der Geschichten verschiedener Yokai. Mizuki interpretiert diese dabei aus seinen Erinnerungen in graphischer Form. Seine Werke sind somit auch als Archiv ansonsten vergessener Kultur zu verstehen und verdienen dementsprechende Würdigung.
In Konklusion sei an die Verlage in zweierlei Hinsicht zu appellieren. Gekiga ist ein wundervoller Begriff, der japanische Geschichte wie Kultur trägt und eine ganze Bewegung Kunstschaffender vereinigt(e) – bitte ersetzt diesen nicht durch Graphic Novel aus Marketinggründen. Viel eher investiert den Aufwand, um den Kund*innen die wunderbare Welt des Gekiga nahezubringen, etabliert den Begriff auch in Deutschland. Die zweite Bitte, und diese ist klar persönlich markiert, lizenziert weitere und insbesondere längere Werke Gekiga-Schaffender. Es ist Kulturgut, das den Westen zwar viel zu spät, aber zumindest überhaupt erreichen soll. Es fehlen dem deutschen Markt noch immer zahlreiche kostbare und essentielle Werke großer Gekiga-Künstler, von Tatsumi über Mizuki und Tezuka bis Kamimura und Tsuge, gibt es noch einen ganzen Berg an unveröffentlichten Geschichten, den es für unsere hiesigen Verlage zu erklimmen gilt. Der kleine, deutsche Herausgeber Reprodukt befindet sich allerdings bereits auf einem lobenswerten Weg in diese Richtung.