„Akira"-Ausstellung in Berlin: Die Architektur von Neo Tokyo in eindrucksvollen Exponaten
1988 setze Katsuhiro Otomo mit Akira völlig neue Maßstäbe im Animationsfilmbereich. Der auf Otomos gleichnamiger Mangavorlage beruhende Sci-Fi-Klassiker gilt als Auslöser für den westlichen Anime-Boom Ende der Neunzigerjahre. In mühevoller Handarbeit und mit merklicher Detailverliebtheit entstanden, fasziniert Akira selbst heute noch ganze Generationen an Science-Fiction- und Anime-Fans überall auf der Welt. Vor ein paar Wochen haben wir darüber berichtet, dass Otomos genreprägendem Meisterwerk eine Ausstellung im Berliner Museum für Architekturzeichnung gewidmet ist. Auch wir haben uns die Gelegenheit eines Besuches natürlich nicht entgehen lassen.
Based on the graphic novel “AKIRA” by Katsuhiro Otomo. First published by “Young Magazine”, Kodansha Ltd.
© 1988 MASH・ROOM/ AKIRA COMMITTEE All Rights Reserved.
Stefan Riekeles – Der Mensch hinter dem Projekt
Als Kurator Stefan Riekeles Freunden und Kolleg*innen von seinen Plänen bezüglich einer Präsentation rund um den populären Animationsfilm erzählte, schüttelten diese nur ungläubig mit dem Kopf. Akira nach Berlin bringen? Unmöglich! Dabei hat der engagierte Kunst- und Architekturliebhaber bereits eine Vielzahl an ähnlichen Projekten ins Leben gerufen. Seine Ausstellung Anime Architecture feierte ihre Premiere 2016, ebenfalls im Tchoban-Foundation-Museum für Architekturzeichnung. Ihr Fokus lag auf den futuristischen Kulissen namhafter Vertreter des Anime-SciFi-Segments. Mit eindrucksvollen Originalzeichnungen, Entwürfen und Storyboards von Neon Genesis Evangelion, Ghost in the Shell bis hin zu Tekkon Kinkreet wollte Riekeles deutlich machen, welchen Einfluss die durchweg detailverliebten Hintergründe und die imposante Architektur auf die Wahrnehmung von ikonischen und unvergessenen Filmszenen haben. Den Besuchenden den Entstehungsprozess, den Aufwand hinter dem finalen Werk, näherbringen – warum sollte das nicht auch mit Schwerpunkt auf Otomos Akira möglich sein?
Die Schwierigkeit liege laut Riekeles vor allem im überraschend kompliziert verteilten Besitzrecht der Aufnahmen und der Arbeitsweise der japanischen Entwickler begründet. Was für uns einmalige und unersetzbare Kunstwerke sein mögen, wird vom Produktionsteam häufig als Gebrauchsgegenstand wahrgenommen, der nach seiner Zweckerfüllung im Anschluss an die Dreharbeiten in Koffern landet oder weggeworfen wird. Von den ursprünglich rund 12.000 handgezeichneten Bildern, die für den Film Akira angefertigt wurden, ist der Großteil heute nicht mehr auffindbar oder zerstört. Sie wurden nicht archiviert, sondern meist von den Künstler*innen selbst mit nach Hause genommen. Folien mit Figuren und Objekten, die über die Hintergründe gelegt werden, sogenannte Animation Cels, wurden später den VHS-Kassetten beigelegt und gelten heute unter Sammlern als begehrte Raritäten. Bei genauer Betrachtung der Ausstellungsstücke sind Falze, kleinere Risse und Knicke erkennbar, die lager- und transportbedingt entstanden sind. Insgesamt 59 Originale konnte Stefan Riekeles für seine Ausstellung dank Leihgaben Produktionsbeteiligter zusammentragen.
Doch nicht nur das mühselige Sammeln und Recherchieren stellte den Berliner Kurator vor Herausforderungen, Riekeles musste auch Überzeugungsarbeit leisten.
Katsuhiro Otomo – Akiras geistiger Vater
Katsuhiro Otomo wurde mit zahlreichen Awards und Auszeichnungen geehrt, darunter der Eisner Award und die japanische Ehrenmedaille am violetten Band, ein Verdienstorden für besondere Leistungen im künstlerischen und akademischen Bereich. Der erfolgreiche Drehbuchautor und Mangaka ist sich der Bedeutung, die Akira für die Verbreitung und Popularität von Manga und Anime auf dem westlichen Markt hatte, bewusst. Doch Otomo brachte auch andere berühmte Genrevertreter hervor, um die Jahrtausendwende herum schrieb er beispielsweise die Drehbücher für das auf Osamu Tezukas Manga basierende Metropolis (im deutschsprachigen Raum auch unter dem Namen Robotic Angel bekannt) und den Steampunk-Animationsfilm Steamboy.
Dass die Leute dennoch ausschließlich Anfragen bezüglich Akira an ihn herantragen, sei dem 68-jährigen Mangaka eher lästig, so Riekeles. Umso erstaunter sei Otomo gewesen, als der Kurator ihm von seiner Idee erzählte, nicht dem Film selbst oder seinen Charakteren eine Ausstellung widmen zu wollen, sondern den Fokus auf die Elemente zu legen, deren Bedeutung den Zuschauern meist gar nicht bewusst sind, nämlich der Architektur, den unbelebten Elementen und den Hintergründen. „Das ist so nerdy, da konnte er nicht Nein sagen!“, scherzt Riekeles.
Von der Zeichnung zur belebten Millionenstadt – Neo Tokyo wird erbaut
Während das Berliner Architekturmuseum mit seiner ungewöhnlichen Außenfassade und den eigenwilligen, fast verschachtelten Gängen bereits selbst ein Architekturkunstwerk darstellt, begleitet uns der Berliner Kurator in den ersten Ausstellungsraum, der Neo Tokyo, den imposanten Schauplatz des Films, zu neuem Leben erweckt. Wir stehen vor dem Kernstück der Exposition, es zeigt die fiktive Millionenstadt aus der Vogelperspektive – die Einflüsse von Ridley Scotts Blade Runner und Fritz Langs Metropolis sind unverkennbar. Der Gedanke, dass all die Gebäude, tausende Fassaden und Fensterchen, Brücken und Straßen von Menschenhand auf Papier gebracht wurden, erscheint uns kaum vorstellbar. Riekeles erklärt, dass Neo Tokyo in dieser Form nicht existieren kann. Würde man unter Berücksichtigung der im Film gezeigten Straßenverläufe und Bezirke eine Karte anzufertigen versuchen, würde man schlichtweg scheitern.
Der Realismus weicht aber auch in anderen Designfragen der inszenatorischen Wirkung. So weist der Kurator beispielsweise auf die Darstellung von Dunkelheit, wie sie beispielsweise in den Maschinenräumen unter der Forschungsanlage Verwendung findet, hin. Auf schwarze Flächen wurde bewusst verzichtet, das Nachtspektrum und tiefe Schatten mit starken Rot- und Blautönen ergänzt. Dadurch wirken selbst Rohre, Schalter und verworrene Korridore innerhalb der Einrichtung eigenartig farbenfroh, ja fast lebendig, und erinnern an menschliche Arterien und Venen.
Auffällig ist auch der Detailgrad in der Bildmitte, der sich nach außen hin langsam verliert. Riekeles beschreibt uns, wie die Künstler*innen mit der Tiefenwahrnehmung bei Perspektivwechsel gearbeitet haben. Und tatsächlich, egal auf welchen Bildausschnitt wir uns bei Darstellungen der Stadt in ihrer Gesamtheit fokussieren, der Eindruck der Dreidimensionalität und die Fluchtpunkttäuschung begleiten uns stets. Am Beispiel des Regierungsgebäudes, eine der Hauptkulissen des Films, wird uns die Technik hinter der Illusion erklärt. Im Film läuft die Kamera langsam über die Stadt auf die Außenfassade des riesigen Bauwerks zu und führt den Betrachter schließlich ins Gebäudeinnere. Dieser Effekt, der durch das langsame Zoomen auf einen bestimmten Bildpunkt hin erzeugt wird, wird auch Track Down genannt. Ein einziges Bild, geschickt überlagert mit mehreren Schichten Folie und einer ausgeklügelten Kameraführung, deren Anweisungen bereits am Seitenrand genau markiert sind, waren für diese Illusion von Plastizität und Räumlichkeit notwendig. Neo Tokyo wurde, trotz Limitation auf ein zweidimensionales Medium, also buchstäblich konstruiert.
Um diesen Inhalt sehen zu können, musst du der Verwendung von Cookies für YouTube zustimmen.
Tradition und Effizienz – Das Handwerk der japanischen Background Artists
Unter den 59 Präsentationsstücken finden sich die Namen acht beteiligter Zeichner*innen, zwei von ihnen wurde ein besonderer Platz innerhalb der Ausstellung eingeräumt. Der Art Director des Animationsfilms, Toshiharu Mizutani, gründete und leitete im Laufe seines Lebens bereits mehrere eigene Studios und arbeitet auch heute noch als Background Artist in seinem Tokyoter Unternehmen Moon Flower. Sein Kollege Hiroshi Ohno war ebenfalls an einer Reihe namhafter Anime-Produktionen beteiligt und hat, obwohl er die Arbeit an Akira nicht bis Produktionsende begleitet hat, um ein Angebot als Art Director von Studio-Ghibli-Mitbegründer Hayao Miyazaki anzunehmen, maßgeblich zu dessen Entstehung beigetragen.
Die Ausstellung zeigt auch Fotografien von den Zeichnern bei der Arbeit. Auf engstem Raum und hochkonzentriert wurde in nur zwei Jahren ein Film gefertigt, den 30 Jahre später jeder Anime-Fan kennt. Doch wie war die Arbeit am Projekt für die Künstler und Künstlerinnen selbst? „Immer dieses Lineal!“, sei stets die Antwort der Beteiligten, erzählt Riekeles lachend, der regelmäßig Anekdoten von seiner Recherchezeit einstreut und damit auf die geraden Linien und Fluchtpunktperspektiven der erdachten Großstadt anspielt.
Jedes Bild und jede Folie hat ihre akribisch geplante Daseinsberechtigung und weil der Großteil der Produktionskosten in das Personal gesteckt wird, wurde möglichst auf Effizienz gesetzt. So nutzten die lediglich 20 Personen, die mit dem Zeichnen der Hintergründe betraut waren, meist günstiges Papier und Farben, malten die angedachten Szenen entsprechend der späteren Kameraführung mitunter diagonal auf das Blatt und fügten direkte Anmerkungen und Notizen direkt an den Rändern der Zeichnungen ein. Teilweise sind noch Klebebandreste, Fixiermaterial und Einstichlöcher auf den Ausstellungswerken erkennbar.
Die effiziente Arbeitsweise ist auch bei Kampfspuren, zerstörten Stadtteilen und Autos sichtbar, die mit Folientechniken direkt auf die ursprünglichen Bilder der intakten, unbeschädigten Szenerie aufgetragen wurde – additive Subtraktion, erklärt Stefan Riekeles.
3 Bilder
Doch trotz des wie ein Uhrwerk laufenden Produktionsprozesses, die mit Farben, Bleistiften, Skizzen und Linealen geradezu vollgestellt wirkenden Tische, die viel zu engen Räume, Deadlines und visionären Ansprüche der Regisseure und Art Directors ist man stolz auf die traditionelle Arbeitsweise, die in Zeiten von Computergrafiken und digitalen Animationsproduktionen leider immer weniger Verwendung findet. Stefan Riekeles Ausstellung ist eine Hommage an die japanischen Künstler und Künstlerinnen hinter diesen Projekten, eine Liebeserklärung an den in akribischer Handarbeit entwickelten Animationsfilm der Neunzigerjahren Viele der Werke sind nie zuvor im Rahmen einer Exposition gezeigt worden und als Teil der Geschichte der japanischen Trickfilmkultur ein unvergleichbares Erlebnis für jeden Fan. Wir bedanken uns herzlich bei Kurator Stefan Riekeles und dem Tchoban-Foundation-Architekturmuseum und empfehlen allen Interessierten wärmstens einen Besuch. Bis zum 04. September kann die Ausstellung noch in Berlin besucht werden.