Interview mit „Afternoon“-Chefredakteur Akira Kanai – Globalisierung, Webtoons und „gesunde“ Seinen-Manga
Habt ihr vielleicht schon Skip & Loafer, Wandance, Darwin’s Incident oder Vinland Saga gelesen? All diese Manga könnten unterschiedlicher nicht sein und doch stammen sie aus ein und derselben Manga-Zeitschrift von Kodansha – der Afternoon. Das monatlich erscheinende Magazin wird allgemein der Seinen-Zielgruppe zugeordnet und fokussiert sich damit auf Geschichten für junge Männer. In der Vergangenheit waren auch Klassiker wie Oh! My Goddess, Blame!, Blade of the Immortal und Knights of Sidonia in der Zeitschrift zu lesen. Das Schwestermagazin good!Afternoon hat ebenfalls zahlreiche Reihen hervorgebracht, die viele Fans hierzulande sicherlich kennen. Dazu zählen beispielsweise Magus of the Library, Ajin und Quin Zaza – Die letzten Drachenfänger.
Wir durften Ende 2023 ein Interview mit Akira Kanai, dem Chefredakteur des Afternoon-Magazins, führen und mehr darüber erfahren, was Afternoon-Manga aus seiner Sicht so besonders macht, darüber philosophieren, was das Afternoon-Magazin von Fastfood unterscheidet und inwiefern illegale Raubkopien einen Einfluss auf die Globalisierung von Manga haben. Kanai-san war vor seiner jetzigen Position in der Redaktion des Morning-Magazins und Weekly Shounen Magazine angestellt und bringt mehrere Jahrzehnte Erfahrung in der Manga-Industrie mit. Als Redakteur betreute er in der Vergangenheit Werke wie Vinland Saga, Planetes, Ajin, Fragile und Maria the Virgin Witch. Das ausführliche Interview ist am Ende des Artikels zu finden.
© Misaki Takamatsu / Kodansha Ltd. | © coffee / Kodansha Ltd. | © Shun Umezawa / Kodansha Ltd. | © Makoto Yukimura / Kodansha Ltd.
Kanai-san arbeitet bereits seit 30 Jahren in der Seinen- und Shounen-Manga-Redaktion von Herausgeber Kodansha. Angefangen hat alles damit, dass er einfach kein „normaler“ Angestellter, sondern Manga-Zeichner werden wollte. Ja, Zeichner! Ursprünglich bewarb er sich als Mangaka, unterlag dann aber dem irrtümlichen Glauben, dass Redakteur zu werden doch eigentlich einfacher sei – welch Wink des Schicksals. Heute ist er Chefredakteur von Afternoon, good!Afternoon sowie dem Manga-Webzine &Sofa und betreut Original-Manga für die Plattform COMICDAYS. Dafür jongliert Kanai-san mehrere unterschiedliche Arbeitsabläufe gleichzeitig.
Auf die Frage nach den Unterschieden zwischen den verschiedenen Redaktionen seiner Laufbahn erklärte er, dass es einen großen Kontrast zwischen einem Magazin für Jungen (Shounen) und Erwachsene (Seinen) gebe. Zu seinem Erstaunen sei die Denkweise, dass Kinder immer rein und gerecht und Erwachsene im Gegensatz dazu eher verdorben sind, damals sehr verbreitet gewesen. Unter anderem deshalb musste der Held eines Shounen-Manga ein Junge sein. Denn genau dieser verkörperte eben auch die Reinheit und Unschuld.
Die Afternoon richtet sich allerdings an eine erwachsene Leserschaft und möchte, so der Chefredakteur, eine Vielfalt an innovativen Geschichten anbieten, die zum Nachdenken anregen und möglichst nicht auf einen Trend aufspringen. Dass die Leser:innen nicht aufhören, selbst nachzudenken, hält er für eine Priorität, denn nur das sei „gesund“. Manga-Werke, welche die Leser:innen nur kurzzeitig stimulieren, seien wie Fastfood, welches zumindest Kanai-san nicht auf Dauer seiner Tochter zumuten würde.
Immer wieder die gleichen Geschichten zu lesen, führe dazu, dass Menschen sich nicht mehr aus unterschiedlichen Blickwinkeln einer Sache nähern könnten. Wenn der stereotypische Held immer der Gute ist und gegen das (vermeintlich) Böse gewinnt, dann übertrage sich das früher oder später auf die reale Denkweise und man sehe in Konfliktsituationen alles nur noch Schwarz oder Weiß. Deshalb wünscht sich der Chefredakteur, dass Afternoon-Manga möglichst kein eindeutiges Ende vorgeben.
Die derzeitigen Trends am Markt benennt Kanai-san mit Isekai für Männer und Boys Love für Frauen – das setze sich wohl noch fünf weitere Jahre fort. Beide Genres ermöglichen es den Leser:innen, der Realität zu entfliehen und seien einfach gestrickt. Mit Afternoon möchte Kanai-san aber – soweit möglich – bewusst abseits von Trends arbeiten und weiterhin die Realität aufzeigen. Denn wenn man in der Realität scheitert, „dann ist es eben so“.
Dass Kanai-san global denkt, wird nicht zuletzt dadurch deutlich, dass er jeden Tag Stunden investiert, um Nachrichten aus aller Welt zu schauen. Das heiße aber nicht, dass er für die internationalen Leserinnen und Leser ein Werk – abgesehen von gewissen Kodexen – anpassen würde, um einer „political correctness“ gerecht zu werden. Vielmehr sei man auf der menschlichen Ebene weltweit auf einer Wellenlänge: Die Unsicherheit von Mitsumi aus Skip & Loafer, vom Dorf in die Großstadt zu ziehen, fühle doch jeder, egal welcher Herkunft.
Auch im Zuge der Digitalisierung und mit Blick auf Webtoons sieht Kanai-san keinen Bedarf, sich anpassen zu müssen. Manga könnten ohnehin schon auf digitalen Devices jeder Art gelesen werden. Was fehle, sei eher die Übersetzung in andere Sprachen. Bei der Expansion ins Ausland sei er nicht auf einer Linie mit der Geschäftsleitung des Verlags. Während diese sich vornehmlich aufgrund der demografischen Tatsache, dass die japanische Bevölkerung schrumpft, auf internationale Märkte ausdehnen wolle, sieht Kanai-san die Manga-Globalisierung mit anderen Augen.
Es seien vielmehr die Möglichkeiten, dass man heute international über Ländergrenzen hinweg Manga produzieren könne, was wichtig sei und Spaß mache. Die Fangemeinschaft kann nun über den Globus hinweg wachsen, weil zunehmend mehr und mehr Manga in verschiedenen Ländern veröffentlicht werden. Das sollten Leserinnen und Leser auch durch Käufe unterstützen, anstatt Raubkopien zu konsumieren. Letztendlich führe aber beides dazu, dass unabhängig vom Land, in dem man lebt, das Interesse an Manga und dem Zeichnen von Manga steige.
Diese selbst gezeichneten Manga aus der ganzen Welt können dann wiederum bei Afternoon eingesendet werden. Ein gutes Beispiel hierfür ist der Shiki-Preis, der jedes Quartal stattfindet und offen für angehende Mangaka aus aller Welt ist. Falls ihr selbst von einer Manga-Veröffentlichung in Japan träumt und euch das Motto der Afternoon – „challenge for something“ – inspiriert, findet ihr hier genauere Informationen zum Shiki-Preis und der Teilnahme.
Wir möchten uns herzlich bei Kodansha für die Organisation des Interviews sowie bei Kanai-san selbst für seine Zeit bedanken. Darüber hinaus bedanken wir uns freundlich bei allen involvierten Mitarbeiter:innen von Kodansha, die dieses Interview ermöglicht haben. Das nachfolgende Interview, die Übersetzung und die Verschriftlichung stammen von Manga Passion. Wir kürzen uns dabei mit MP ab.
MP: Hallo Kanai-san und vielen Dank, dass Sie sich die Zeit nehmen, um heute mit uns über Ihre Arbeit bei Kodansha zu sprechen.
Kanai-san: Ich freue mich.
MP: Können Sie sich zu Beginn kurz unseren Leserinnen und Lesern vorstellen? Seit wann sind Sie bei Kodansha und in welcher Position? Welche Werke haben Sie dabei unter anderem betreut?
Kanai-san: Ich bin 1994 zu Kodansha gekommen. Ich war dem wöchentlichen Morning-Magazin, das es heute noch gibt, ungefähr sieben bis acht Jahre zugeteilt, danach bin ich 2002 zum Weekly Shounen Magazine gewechselt. Seit 2006 bin ich in der Redaktion des Afternoon-Magazins, und seit 2015 bin ich in meiner derzeitigen Stellung als Chefredakteur des Afternoon-Magazins tätig, also im achten oder neunten Jahr jetzt.
Was die betreuten Werke angeht, so habe ich während meiner Zeit bei Morning gemeinsam mit Makoto Yukimura an Planetes gearbeitet. Weitere sind Ajin, Vinland Saga und Fragile, eine Geschichte über einen Arzt. Ich weiß aber nicht, ob Fragile auch auf Deutsch erhältlich ist. Außerdem noch Maria the Virgin Witch von Masayuki Ishikawa und weitere. Ich habe bisher nur in der Manga-Redaktion gearbeitet, 30 Jahre sind es jetzt schon. Es sind schon 30 Jahre! (lacht)
Als Student wollte ich kein Büroangestellter werden und habe versucht, selbst Manga zu zeichnen. Damals waren Afternoon und Morning noch eine Redaktion. Eigentlich wollte ich meinen Manga bei Afternoon einreichen, aber es gab noch keine Ansprechpartner für das gerade unabhängig gewordene Afternoon-Magazin. Also bewarb ich mich bei Morning. So bekam ich einen Redakteur aus der damaligen Morning zugeteilt, der von schlaflosen Nächten sehr übermüdet aussah und mir – Entschuldigung für die Wortwahl – einen nichtssagenden Rat gab. Ich selbst war total verkatert und dachte mir, wenn man für so einen Schwachsinn Geld verdienen kann, dann ist es doch einfacher, Manga zeichnen zu lassen, als sie selbst zu zeichnen. Deshalb habe ich bei Kodansha angefangen. (lacht) Ich fühlte mich aber ein bisschen betrogen, denn als ich anfing, merkte ich, dass es gar nicht so einfach war. (lacht)
MP: Sie haben bereits für einige unterschiedliche Magazine von Kodansha gearbeitet. Haben Sie bei Ihrer Tätigkeit für die jeweiligen Magazine einen Unterschied bemerkt oder würden Sie sagen, dass die Arbeit als Redakteur, abgesehen von der Zielgruppe, ähnlich ist?
Kanai-san: Es gab sowohl Unterschiede als auch Gemeinsamkeiten. Während meiner Zeit beim Weekly Shounen Magazine habe ich tatsächlich einen großen Unterschied gespürt. Es ist ein Label, welches sich an Teenager richtet, dessen war ich mir bei der Erstellung der Werke sehr bewusst. Die Art, wie man Teenager, also Minderjährige, anspricht, war anders als bei Afternoon oder Morning, zwischen denen es kaum Abweichungen gab.
Zwischen einem Magazin, das sich an Teenager richtet, und einem, das sich an Erwachsene richtet, besteht eine große Differenz. In Japan gibt es die vielleicht einzigartige Denkweise, dass Young People sehr rein und rechtschaffen sind. Dagegen sind die Erwachsenen diejenigen, die sich irren, begierig und machthungrig sind. Die Vorstellung, dass Teenager beziehungsweise Kinder im Recht sind, war sehr dominant, und ich konnte mich absolut nicht daran gewöhnen.
Meine Zeit beim Weekly Shounen Magazine empfand ich als ein bisschen schwierig. Ich glaube, dass Kinder rein sind, aber sie brauchen Erziehung und Bildung, nicht wahr? Ich war sehr überrascht, dass die Erwachsenen in der dortigen Redaktion sich irgendwie als dirty ansahen. (lacht) Wenn man die japanische Geschichte betrachtet, gab es eine ganze Reihe von Fällen, in denen Teenager zum King of Rebel wurden und dem Land den Kampf ansagten.
Die Idee, dass gerade in der Kindlichkeit Gerechtigkeit liegt – wie ist das wohl in Deutschland? Aber auch in Deutschland gab es früher vielleicht so etwas. Ich war ein wenig überrascht, zu sehen, dass es in Japan noch immer diese Denkweise gibt. Ob das immer noch so ist, weiß ich nicht. Aber damals, als ich 2002 bis 2006 dort war, war das so. Genau deshalb werden in Werken von Shounen-Magazinen Jungen als Hauptfiguren ausgewählt. Natürlich sind die Leser auch Jungen und es gibt die Aufteilung nach Shounen und Shoujo. Das fand ich interessant. Und gleichzeitig war es eben sehr anders. Das war der wohl größte Unterschied.
MP: Seit 2015 sind Sie als Chefredakteur für das Afternoon-Magazin verantwortlich. Die Titel aus dem Magazin richten sich vornehmlich an ein erwachseneres Publikum. Was macht Ihrer Meinung nach das Afternoon-Magazin aus – und welchen Stellenwert hat das Magazin aus Ihrer Sicht innerhalb der japanischen Manga-Industrie?
Kanai-san: Um es mit der Lebensmittelbranche auszudrücken: Ich denke, das Gute ist, dass wir nicht so sehr auf Fastfood abzielen. Wir wollen leckere Speisen anbieten, aber nichts, das, wenn man es sechs Monate oder ein Jahr lang ständig konsumiert, der Gesundheit schadet. Wir wollen ein Magazin-Label sein, das viele leckere und gesunde Werke enthält.
Ich glaube, dass japanische Verlage – weil sich jene Manga so gut verkaufen – unbedingt wie eine Fastfood-Kette sein wollen. Aber ich halte es für sehr wichtig, dass das Mahl schmackhaft und gesund ist. Ich möchte keine Werke veröffentlichen oder anbieten, die sich vielleicht gut verkaufen, aber nicht gesund sind. In manchen Fällen verkaufen sie sich vielleicht nicht so gut, aber wenn sie gesund für das Herz, die Gefühle und den Geist der Leser:innen sind, möchte ich sie anbieten. Ich halte das für sehr wichtig.
In meinen Augen ist es ein ungewöhnliches Magazin. Ich denke, das macht Afternoon aus. Natürlich möchte ich, dass es sich gut verkauft. Und es wäre gut, wenn es viel Geld einbringt. Aber ich möchte auch, dass es ein Label ist, das eine wichtigere Priorität als Verkaufszahlen hat. Ich frage mich, ob ich das gut rüberbringen konnte. Fastfood wird doch auch in Deutschland allgemein so gesehen, oder? (lacht)
MP: Ja, es ist genauso. Das Essen von Fastfood-Ketten ist wohl auf der ganzen Welt gleich. (lacht)
Kanai-san: Ach, wirklich? (lacht) Man will es nicht Tag für Tag den Kindern zum Essen geben, richtig? Ich denke, Manga sind sehr vielfältig. Ich kann in der Geschichte entscheiden, dass dieser Charakter ein böser und starker Feind ist. Die Hauptfiguren arbeiten wirklich hart und besiegen diesen Feind. Das kann den Leser:innen eine große Katharsis bieten.
Wenn man aber nur das anbietet, werden die Kinder oder Leser:innen wohl so erzogen, dass sie nur einseitig Partei ergreifen können, wenn Probleme auftauchen, wie es beispielsweise in Bezug auf Israel und die Hamas zu beobachten ist. Ein anderes Beispiel: Es taucht ein süßes Mädchen auf, und wenn man sie auf eine bestimmte Weise anspricht, könnte sie sich vielleicht in den Protagonisten verlieben und sogar heiraten. So etwas gibt es doch nicht! (lacht)
Es gibt doch nicht immer nur so glücklich verlaufende Geschichten. Kurz gesagt: Wenn du den starken, bösen Feind vernichtest, wirst du dich gut fühlen. Und wenn du dein Bestes gibst, um vor dem schönen, süßen Mädchen gut dazustehen, wird es dich mögen. Beides entspringt letztendlich der Begierde und Libido, und es ist einfach, diese zu stimulieren. Aber das sind Lügen.
Natürlich ist es wie mit Drogen oder Fastfood. Diese Werke verkaufen sich sehr gut und werden zu großen Hits, weil sie die Libido der Leser:innen stimulieren, und das ist völlig in Ordnung. Aber wenn man das den ganzen Tag konsumiert, jeden Tag, dann hört man wahrscheinlich auf, zu denken. Und das ist auf lange Sicht schädlich. Ich fände es gut, wenn zumindest Afternoon Werke veröffentlichen würde, die sich ernsthaft mit einem Thema befassen, die keine eindeutige Antwort haben oder es sehr schwer machen, eine Antwort zu finden.
MP: Als Chefredakteur sind Sie mit Sicherheit viel beschäftigt. Könnten Sie uns schildern, wie ein Tag bei Ihnen grob abläuft? Welche Routinen gibt es in Ihrem Aufgabenbereich?
Kanai-san: Ich weiß nicht, ob das die deutschen Leserinnen und Leser interessiert. Wenn es um meine Routinen geht, so stehe ich zwischen sechs und halb sieben morgens auf. Meine Tochter ist jetzt in der ersten Klasse der Mittelschule* und 13 Jahre alt. Weil sie den Schulbus um 7:40 Uhr nehmen muss, wecke ich sie nach dem Aufstehen um halb sieben auf. Danach bin ich damit beschäftigt, dass sie bis zur Abfahrt um 7:40 Uhr fertig ist.
Wenn sie das Haus verlassen hat, nehme ich mir circa zwei Stunden Zeit, um Nachrichten aus aller Welt anzuschauen – Nachrichten aus Deutschland, Großbritannien, Frankreich, China, Korea … Ich versuche fast alle Nachrichten aus der ganzen Welt, die man in Japan empfangen kann, vormittags zu schauen.
Am 7. Oktober wurde auf allen Kanälen der Welt die ganze Zeit über die Situation von Israel und der Hamas berichtet. Es fühlte sich an, als würde ich allmählich ohnmächtig werden. Während ich solche News schaue, kümmere ich mich um den Haushalt. Gegen Mittag komme ich in die Firma oder arbeite von zu Hause aus.
Ich kann die verschiedenen Arten von Arbeitsabläufen, die ich im Büro erledige, nicht im Detail erklären, aber ich betreue nach wie vor Mangaka und als verantwortlicher Redakteur habe ich Termine mit ihnen. Außerdem mache ich ein letztes Korrekturlesen für das Magazin und habe viele Besprechungen. Gegen acht oder neun Uhr abends gehe ich nach Hause.
Es ist schwierig, die Arbeitsabläufe zu erklären. Bei wöchentlich erscheinenden Magazinen gibt es klare Routinen: Am Montag muss das erledigt werden, am Dienstag jenes, bis Mittwoch dieses und so weiter. Seit ich bei einem monatlichen Magazin bin, fällt es mir schwer, eine feste Arbeitsroutine zu entwickeln. Deshalb habe ich bis heute keine.
Besonders bei meiner Arbeit bei Afternoon betreue ich mit Afternoon, good!Afternoon, dem Manga-Webzine &Sofa und den Original-Manga von COMICDAYS verschiedene Medien mit jeweils unterschiedlichen Arbeitsabläufen. Das fühlt sich an, als würde man vier verschiedene Games gleichzeitig spielen. Da ist es schwierig, eine feste Arbeitsroutine zu entwickeln. Das gefällt nicht nur mir nicht, sondern auch den anderen Mitarbeitern bei Afternoon. Aber das lässt sich vermutlich nicht ändern.
Ich glaube, wöchentliche Magazine gibt es hauptsächlich nur in Japan, Tageszeitungen und monatlich erscheinende Magazine gibt es auf der ganzen Welt. Gefühlsmäßig ist man bei wöchentlichen Magazinen sehr beschäftigt, aber weil man feste Routinen hat, laugt es den Körper nicht so aus. Und wenn einem etwas widerstrebt, endet die Frist immerhin am Freitag und man startet in der nächsten Woche wieder von Neuem. Das ist bei einem monatlich erscheinenden Magazin schwierig zu etablieren. In meiner Wahrnehmung ist die Arbeitsroutine bei einem wöchentlichen Magazin einfacher. Ich würde deshalb aber nicht wieder bei einem wöchentlich erscheinenden Magazin anfangen wollen. Ich habe einen sehr konfusen Alltag. (lacht)
*Anm. d. Red.: Entspricht der siebten Klasse in Deutschland.
MP: Wie wählen Sie die Manga aus, die im Afternoon-Magazin veröffentlicht werden? Welche Kriterien sind Ihnen bei der Auswahl wichtig?
Kanai-san: Wie bereits erwähnt, denke ich, dass die Werke vorzugsweise nicht nur interessant, sondern auch gesund sein sollten – für den Geist und die Mentalität. Abgesehen davon möchte ich keine Werke veröffentlichen, die man nicht braucht. Was ich damit sagen will, ist, dass jemand, sei es jetzt oder in der Vergangenheit, bereits zu einer Schlussfolgerung gekommen ist. Es stimmt, dass man Freunde wertschätzen sollte. Aber warum zeichnet man jetzt ein Werk darüber, dass man Freunde wertschätzen sollte? Das braucht es doch nicht mehr. Es wäre auch besser, einfach keine Kriege zu führen. Das ist wahr. Ich glaube aber nicht, dass es notwendig ist, Schlussfolgerungen zu zeichnen, die in Manga bereits behandelt wurden.
Ich wünsche mir, dass Werke entstehen, die sich mit den Problemen auseinandersetzen, die es nicht nur in Japan gibt, sondern auch in anderen Ländern, wo es wahrscheinlich Menschen gibt, die mit denselben Problemen zu kämpfen haben. Egal, wie ich antworte, es fühlt sich wie eine Kritik an. (lacht) Aber eigentlich ist es gar nicht so gemeint. Ich denke nur, dass Afternoon schon immer solche Werke hatte, und wünsche mir, dass es ein Magazin-Label ist, das für „challenge for something“ steht.
MP: Viele interessiert in diesem Zuge auch: Inwieweit sind Sie in Prozesse wie Entscheidungen über Anime-Adaptionen oder Ähnliches involviert?
Kanai-san: Ich sage in der Regel nicht „Nein“ zu Anfragen aus der Unterhaltungsindustrie, egal ob es sich um Anime-Adaptionen oder Realverfilmungen handelt. Selbst wenn das Projekt scheitert, kann eine solche Adaption in einem anderen Unterhaltungsmedium neue Möglichkeiten eröffnen. Wenn mir drei Unternehmen ein Angebot für ein Werk machen, werde ich zwar meine Meinung äußern, aber nichts vorgeben.
Wenn zum Beispiel meine Tochter in Zukunft sagt, dass sie heiraten möchte, dann ist das in Ordnung. Ich denke, dass ich so ein Typ Vater bin. Selbst wenn sie einen Boyfriend mitbringt, von dem ich denke, dass er absolut nicht der Richtige für sie ist, würde ich nichts dagegen sagen. Noch ist sie erst 13 Jahre alt, aber ich bereite mich schon mental darauf vor. (lacht) Ob meine Frau auch so denkt, weiß ich nicht. (lacht) Es ist nicht gut, präventiv zu verhindern, dass etwas schiefgeht, weder bei Kindern noch bei Manga-Werken. Ich gebe zwar Ratschläge, aber es ist keine gute Idee, ihnen das Recht aufs Scheitern zu nehmen.
MP: Sie selbst haben mit Titeln wie Vinland Saga, Ajin und Planetes mehrere international bekannte Werke betreut. Inwieweit denken Sie bei dem Feedback, welches Sie mit den Mangaka durchgehen, bereits an den (potenziellen) internationalen Erfolg einer Reihe und versuchen diese vielleicht auch für das Publikum außerhalb Japans zugänglicher zu gestalten?
Kanai-san: Nein, eigentlich nicht. Es gibt zum Beispiel verschiedene Kodexe gegen die Darstellung von Gewalt, gegen die Darstellung von Nacktheit, ob männlich oder weiblich, oder religiöse Kodexe, die ich beachte. Ich denke jedoch, dass es in der Bevölkerung keine grundlegenden Unterschiede gibt, in dem, was sie als wichtig empfinden – sei es in Japan, Deutschland, China oder Korea. Auch wenn es auf politischer Ebene der Fall ist.
Ich lasse mich nicht von der sogenannten Political Correctness im Ausland beeinflussen und gestalte die Werke dementsprechend. Ich denke, wenn es interessant ist, wird es in der Regel auch verstanden werden, egal ob man aus Afrika, Chile oder Grönland kommt. Ich habe mir bisher nie viel daraus gemacht. Aber selbst wenn ein Werk beispielsweise ein sehr japanisches Thema aufgreift, oder ein deutsches Werk ein deutsches Thema, ein chinesisches Werk ein chinesisches Thema – am Ende ist die Wurzel die gleiche, denke ich.
Ein Werk zu stoppen, weil es ein zu japanisches Problem behandelt, oder etwas vorzugeben – das kommt so gut wie nie vor. Genauer gesagt frage ich mich, ob es bei japanischen Entertainment-Inhalten einen Unterschied zwischen Werken, die international erfolgreich sind, gibt. Sind es die Werke, welche sich eher auf den japanischen Markt oder einen globalen Markt konzentrieren?
Ich glaube nicht, dass es möglich ist, Werke zu schaffen, die genau in der Mitte liegen, und dass solche Werke auch nirgendwo wirklich Anklang finden würden. Nehmen wir beispielsweise Skip & Loafer, in dem es um ein Mädchen geht, das vom japanischen Land kommt und zum Lernen an einer guten Oberschule allein in die japanische Großstadt Tokyo zieht. Ich denke, überall auf der Welt wird man ihr Gefühl von Unsicherheit sicherlich genauso verstehen. Deshalb finden solche Werke eher bei einem internationalen Publikum Anklang.
Insofern denke ich wirklich nicht, dass Werke für das Publikum außerhalb Japans angepasst werden müssten. Wobei ich nicht sicher, wie es bei Menschen aus Ländern ist, in denen es keine ländlichen Gebiete oder keine Städte gibt. Ich habe keine Ahnung, wie das in Dubai ist. Vielleicht bin ich ja voreingenommen. (lacht)
MP: Nicht zuletzt seit dem Übergang ins digitale Zeitalter verändern sich die Trends scheinbar immer schneller. Wie begegnet die Afternoon-Redaktion der Herausforderung, auf die sich (stetig) wandelnden Interessen einzugehen?
Kanai-san: Darüber denke ich überhaupt nicht nach. Ich glaube nicht, dass es einen großen Unterschied zwischen dem Lesen auf Papier und dem Lesen auf einem Smartphone oder Tablet gibt. „Weil es auf einem digitalen Device gelesen wird, muss es so und so angepasst werden“ – das mache ich eigentlich überhaupt nicht.
Oft wird über das Aufkommen von Webtoons gesprochen und darüber, wie toll es wäre, wenn mehr Webtoon-ähnliche japanische Werke produziert werden würden. Aber Webtoons sind Webtoons, und Webtoons sind bereits etabliert. Leute, die Webtoons machen und schreiben wollen, können Webtoons zeichnen.
Aber dass japanische Manga oder Afternoon-Manga auf Webtoons abzielen sollten, ist fast so, als würde man sagen, dass jeder und jede amerikanische Comics machen sollte, weil Marvel sich gut verkauft hat. Das halte ich für sinnlos. Heutzutage kann man auf Tablets Filme, TV-Serien und Theaterstücke ansehen sowie Games spielen. Unter all den vorhandenen Unterhaltungsmöglichkeiten, die man auf dem Tablet auswählen kann, ist es auch möglich, Manga zu lesen.
Da man genauso schon Manga lesen kann, sehe ich überhaupt keine Notwendigkeit dafür, dass sich Manga zu etwas anderem entwickeln müssten. Natürlich wäre es besser, wenn sie schnell in andere Sprachen übersetzt würden, aber abgesehen davon glaube ich nicht, dass wir die Spielregeln in irgendeiner Weise ändern müssten. Ich mache mir da wirklich nichts draus. Es ist mir völlig egal. Ich glaube nicht, dass wir wegen der Digitalisierung etwas ändern müssten.
MP: Was sind Ihrer Meinung nach die Trends, die die Zukunft von Seinen-Manga bestimmen werden?
Kanai-san: Das ist eine schwierige Frage. Beispielsweise hat Sirius, ein Label von Kodansha, durch den Isekai-Trend große Umsätze gemacht. Das halte ich für ein gutes Beispiel dafür, wie man einen Big Trend gut aufgreift. Ich glaube, dass weder ich selbst noch Afternoon bisher erfolgreich einen Trend aufgegriffen und einen Hit gelandet haben. (lacht)
Während ich niedergeschlagen neue Manga suche, denke ich mir: „Das ist ja der Trend, wie schön, beneidenswert.“ (lacht) Es ist nicht so, dass ich keine Antenne für Trends hätte, vielmehr interessiere ich mich nicht dafür. Denn ich möchte, dass Afternoon sehr vielfältig ist. Das Befolgen von Trends würde auf jeden Fall zu einer Verwässerung der Vielfalt führen, also denke ich bei Afternoon nicht daran, Trends zu folgen.
Im übergeordneten Kontext von Seinen-Magazinen wird sich bei den männlichen Lesern der Trend zu Isekai-Geschichten in den nächsten etwa fünf Jahren fortsetzen, schätze ich. Bei den Leserinnen wird der Boys-Love-Trend noch etwa fünf Jahre lang anhalten. Beides ist leicht zu verstehen und man kann die Augen von der Realität abwenden. Wenn möglich, möchten wir uns bei Afternoon mit Werken auseinandersetzen, die zeigen, dass wir uns der Realität stellen sollten, so gerne wir es auch vermeiden würden. Aber wenn man scheitert, dann ist es eben so. Ich möchte abseits der Trends arbeiten.
MP: Beim Shiki-Wettbewerb des Magazins kann man sogar aus dem Ausland teilnehmen. Wie ist es dazu gekommen und was sind die Hintergründe?
Kanai-san: Es ist nicht so, dass wir von Anfang an nur Bewerbungen aus Japan akzeptiert hätten. Tatsächlich war der Shiki-Preis jedoch im Ausland einfach nicht bekannt. Bisher hatte ich nicht viele Möglichkeiten, ihn im Ausland selbst aktiv bekannter zu machen. Versuchsweise haben wir die Ausschreibung auf der Website auf Chinesisch, Englisch und Französisch veröffentlicht. Bei Deutsch mussten wir leider passen, da es bei Kodansha nicht viele Leute gibt, die Deutsch sprechen. Aber einfach ausgedrückt, denke ich, dass sich viele die englische und chinesische Ankündigung in ihre eigene Sprache übersetzen können.
Ich wünsche mir, dass Manga aus vielen verschiedenen Ländern kommen. Es ist nicht so, dass es einen bestimmten Anlass gab, sondern, dass wir allmählich mehr und mehr machen können und deshalb damit zurechtkommen. Beim aktuellen Shiki-Preis war auch wieder ein Manga aus einem Land dabei, aus dem es die erste Einsendung war – ich erinnere mich nicht genau, welches. Jedes Mal ist ein neues Land dabei, das ist ziemlich interessant. Ich wundere mich immer darüber, wie die betreffende Person von japanischen Manga oder dem Afternoon-Magazin erfahren hat. In letzter Zeit vermehren sich auch Einsendungen von Personen, die an einer Manga-Fachschule in Japan studiert haben.
MP: Inwieweit finden Sie selbst den globalen Austausch beim Medium Manga wichtig?
Kanai-san: Ich denke, das ist sehr wichtig. Die Unternehmensleitung von Kodansha geht davon aus, dass die Zahl der Kinder in Japan rapide abnimmt und der Inlandsmarkt allmählich schrumpft, sodass wir unsere Märkte ausbauen müssen. Ich halte das für ziemlichen Blödsinn. (lacht) Das ist doch überall auf der Welt so.
Ich glaube, dass die Geburtenrate – außer in Afrika und Indien – insgesamt rückläufig ist. Ins Ausland zu expandieren, weil der inländische Markt schrumpft, das empfinde ich beschämend. (lacht) Aber dank der Fortschritte in der digitalen Technologie können Menschen, die im Ausland leben, jetzt ganz einfach Manga aus Japan lesen.
Gleichzeitig ist es auch viel einfacher geworden, aus dem Ausland heraus den japanischen Manga-Markt direkt anzusprechen. Deshalb freue ich mich, wenn Leute, die japanische Manga interessant finden, uns mehr und mehr schreiben, und wenn Leute, die japanische Manga mögen, sie lesen, egal ob sie in Brasilien, der Antarktis, Tibet oder Kenia leben.
Es wäre schön, wenn sie nicht nur die illegalen Raubkopien lesen, sondern ein bisschen Geld dafür bezahlen. Aber wenn sie kein Geld haben und es viele Raubkopien gibt, ist die Raubkopie, denke ich, erst mal in Ordnung – dafür, dass ich das jetzt sage, könnte ich von einem Vorstandsmitglied erschlagen werden. (lacht) Zunächst ist wichtig, dass Manga gelesen werden.
Erst wenn sie verfügbar sind, ist es auch möglich, dass selbst gezeichnete Manga an japanische Labels herangetragen werden. Daher würde ich mich freuen, wenn sowohl die Leser- als auch die Autorenseite globaler werden würden. Aber einfach in ausländische Märkte zu expandieren, weil der inländische Markt schrumpft, das ist wirklich beschämend und sollte noch mal überdacht werden. (lacht)
Die Denkweise, dass japanische Verlage immer ärmer werden, wenn sie nicht ins Ausland expandieren, ist armselig und sollte daher aufgegeben werden. Jetzt, da es möglich ist, Manga im Ausland zu lesen und zu zeichnen, hoffe ich, dass die Manga-Fangemeinde selbst wachsen wird. Egal woher und egal welcher Religion. Wenn es also um die Frage geht, ob ich die Globalisierung für wichtig halte, dann kann ich sagen, dass es so viel mehr Spaß macht.
MP: Gibt es zum Abschluss noch etwas, das Sie unserer Leserschaft gerne mitteilen würden?
Kanai-san: Wenn ihr euch für japanische Manga interessiert, würde ich mich freuen, wenn ihr sie lesen würdet. Zum Beispiel sind Menschen, die Manga zeichnen, Filme drehen oder singen möchten, immer von bestimmten Manga, Filmen oder Bands inspiriert. Sie fangen oft damit an, weil sie etwas nachmachen wollen. Es wäre großartig, wenn ihr zuerst japanische Manga lesen würdet (also Werke, die zuerst in Japan publiziert wurden, der Autor oder die Autorin muss nicht unbedingt Japaner:in sein) und dann Lust bekommt, selbst welche zu zeichnen.
MP: Vielen Dank für Ihre Zeit, Kanai-san.