Besprechung zu Chisako Wakatakes „Jeder geht für sich allein“
Dieser Beitrag enthält Affiliate-Links. Beim Kauf von Produkten über einen als Werbung gekennzeichneten Link erhalten wir eine Provision. Mehr erfahren
Nachdem wir im vergangenen Jahr über die Schließung des cass verlags berichtet haben, beginnen wir nun, ausgewählte Werke des Herausgebers für südostasiatische Belletristik und Kriminalliteratur vorzustellen. Im ersten Teil unserer Artikelreihe rücken wir das mit dem Akutagawa-Preis ausgezeichnete Jeder geht für sich allein von Chisako Wakatake in den Mittelpunkt.
Der Roman ist im Februar 2021 auf Deutsch erschienen, mittlerweile wird die zweite Auflage ausgeliefert. Für den Gesamtumfang von rund 110 Seiten sind 22,00 € zu bezahlen. Geboten wird ein Hardcover-Release in den Maßen 19,4 × 12,8 cm mit Lesezeichenband und einem Naturpapier-Schutzumschlag. Letzterem dient eine Radierung von Beate Block als Motiv, der ockerfarbene Kasten samt Schriftzug ist zusätzlich mit Spotlack veredelt.
Für den Druck wurde rissfestes Papier der Sorte Munken Premium Cream (1,95-fach 100 g) verwendet. Eine E-Book-Fassung ist nicht erhältlich. Weil die Titel aus dem cass verlag nur in wenigen Buchhandlungen geführt werden, empfiehlt es sich, für Bestellungen vor Ort die ISBN 978-3-944751-25-2 bereitzuhalten. Online wird Jeder geht für sich allein zum Beispiel über Amazon *WERBUNG oder Thalia *WERBUNG verkauft.
Inhaltsbeschreibung
Momoko ist inzwischen 74 Jahre alt. Als junge Frau kam sie vom Land in die Großstadt. Nachdem sie ihre Familie in der Provinz verlassen hatte, geflohen ist, begann sie, sich in Tokyo ein neues Leben aufzubauen. Schon kurz darauf lernte sie dort ihren späteren Ehemann Shuzo kennen. Gemeinsam bekamen die beiden, ganz nach den gesellschaftlichen Vorstellungen, zwei Kinder.
Heute ist Shuzo tot, Momoko bewohnt das alte Häuschen allein – nur Tochter Naomi und Enkelin Sayaka schauen gelegentlich vorbei. Mit dem Älterwerden haben längst die ersten Gebrechen eingesetzt, der Gang ist eingeschränkt und der Rücken schmerzt. Außerdem tanzt ein Gefühl von Einsamkeit um die Seniorin. In Momokos Kopf ploppen daher seit einiger Zeit Stimmen auf.
Was für die Ruheständlerin anfangs nur eine Randerscheinung war, ist nun fester Bestandteil ihres Daseins. Sie spricht, zumindest wenn es niemand hören kann, mit den verschiedenen Stimmen in ihrem Kopf. Damit wird ein Prozess der Selbstreflexion angestoßen, bei dem ihre Heimat – die Provinz samt ihrem für Jahrzehnte abgelegten Tōhoku-Dialekt – eine besondere Rolle einnimmt …
Aufbau & Ausdruck
Bei Jeder geht für sich allein handelt es sich um das Erstlingswerk von Chisako Wakatake, das die damals 63-Jährige 2017 nach acht Jahren in einem Kurs für kreatives Schreiben veröffentlicht hat. Die rund 110 Seiten sind in fünf Kapitel unterschiedlicher Länge aufgeteilt, die sich – neben dem Auftakt – lose an den Jahreszeiten orientieren. Illustrationen oder sonstige Besonderheiten sind beim Aufbau nicht gegeben.
Stilistisch sind gleich drei zentrale Besonderheiten zu bemerken. Ganz offenkundig ist der Einbezug von Dialekt, der der Erzählung nicht selten auch eine ulkige Note verleiht. Für die Übertragung des japanischen Tōhoku-Dialekts ins Deutsche wurde, nicht zuletzt unter Berücksichtigung der Geografie beider Länder, das Erzgebirgisch-Vogtländische herangezogen – die deutlichen Abweichungen zur Hochsprache sind hier bewusst gewählt. Anfangs benötigt es einige Seiten und teils mehrere Wiederholungen beim (lauten) Lesen, bis das gesamtheitliche Verständnis erreicht ist. Mit ein wenig Mühe entwickelt sich aber eine Routine ohne Unterbrechungen.
Innerhalb der Schilderungen wird übergangslos zwischen einer Ich- und Sie-Perspektive gewechselt, erstere wird zudem phasenweise durch den Gebrauch des erklärten Dialekts akzentuiert. Ein weiteres Erkennungsmerkmal sind lange, mit (mehreren) Einschüben ausgeschmückte, Sätze. Auf diese Weise wird die Dynamik, die sich durch die fortlaufenden Wechsel in Perspektive und Sprache ergibt, etwas ausgebremst, sodass Zeit zum Verarbeiten von Momokos Ausführungen bleibt beziehungsweise geschaffen wird.
Sowohl bei der Mundart, die vom Leipziger Philologen Heinrich Schneider umgesetzt wurde, als auch bei der Komposition der Sätze überfordert Jeder geht für sich allein nicht. Die Übersetzung aus dem Japanischen von Dr. Jürgen Stalph liest sich flüssig. Weder beim Ausdruck noch bei der Orthografie sind Mängel aufgefallen. Interessierte können sich mithilfe der kostenlosen Download-Leseprobe einen eigenen Eindruck von dem Titel verschaffen.
Fazit
In Jeder geht für sich allein steckt viel Wahrheit, geschrieben wie aus dem Leben gegriffen. Wer regelmäßig mit älteren Menschen – Frauen – in Kontakt steht, wird das schnell feststellen. Autorin Chisako Wakatake erzählt die Geschichte einer Seniorin, die in vielen Punkten (leider) ganz alltäglich ist. Stets schwingt ein Signal in Richtung Feminismus, in Richtung Emanzipation, mit. Ein Werk zwischen Selbst- und Gesellschaftskritik, mal subtil angedeutet, mal deutlich ausformuliert.
Momoko ist eine Protagonistin, die, wie es im fortgeschrittenen Alter oft der Fall ist, kein Blatt vor den Mund nimmt. Entsprechend humoristisch erscheinen einzelne Passagen, in denen die 74-Jährige über ihre Beziehung zu ihrem verstorbenen Ehemann und den beiden gemeinsamen Kindern sinniert. Gleichzeitig liegt den Schilderungen tiefe Ernsthaftigkeit zugrunde. Wie der Buchtitel bereits richtig andeutet, ist dieser Roman von einer gewissen Melancholie geprägt. Genau diese erlaubt es, schon nach wenigen Seiten mit der Hauptfigur mitzufühlen.
Um diesen Inhalt sehen zu können, musst du der Verwendung von Cookies für YouTube zustimmen.
Literaturhaus Berlin: Chisako Wakatake im Gespräch mit Katja Cassing
Sprachlich zeichnet sich Jeder geht für sich allein vor allem durch den Rückgriff auf den Dialekt als Ausdruck der eigenen Identität aus. Es bedarf wie im japanischen Original gewisser Mühe, sich in das für die Übersetzung gewählte Erzgebirgisch-Vogtländische reinzuhören beziehungsweise reinzulesen. Anstrengungen, die sich am Ende in Form eines in sich stimmigen Plots, der selbst aber nur als Auszug eines langen Lebens zu begreifen ist, auszahlen.
Unseren Nerv hat der Roman, der zweifelsohne autobiografisch angereichert ist, getroffen. Wer Thematiken rund um das Altern, wie sie – wenngleich weniger drastisch – zum Beispiel von BL Metamorphosen – Geheimnis einer Freundschaft bekannt sind, schätzt, ist hier wirklich gut beraten. Jeder geht für sich allein ist darüber hinaus eine kleine Ode an die Selbstbestimmung (der Frau).
Der cass verlag hat diesen Artikel freundlicherweise mit einem Belegexemplar unterstützt.