Besprechung zu Yukio Mishimas „Der Held der See“
Am 14. Januar 2025 hätte Hiraoka Kimitake beziehungsweise Yukio Mishima, Japans wahrscheinlich meistübersetzter Schriftsteller, seinen 100. Geburtstag gefeiert. Nach unserem Instagram-Gedenkbeitrag legen wir nun passend dazu eine Besprechung zu dem jüngst erschienenen Der Held der See vor.
Herausgeber Kein & Aber hat den rund 190 Seiten umfassenden Roman im November 2024 auf den deutschsprachigen Markt gebracht. Für den Preis von 24,00 € wird eine Aufmachung als Hardcover mit Schutzumschlag und Lesezeichenband geboten, der Spine des in Leinen gebundenen Buches wird von dem in Silberfolie geprägten Titel der Veröffentlichung geschmückt.
Bei dem Release handelt es sich um eine Neuausgabe von Der Seemann, der die See verriet, das bereits 1970 – und noch einmal 1986 als Taschenbuch – im Rowohlt Verlag erschienen ist. Haruki-Murakami-Übersetzerin Ursula Gräfe hat die Geschichte neu aus dem Japanischen übertragen und ein zwölfseitiges Nachwort verfasst, in dem unter anderem auf den Autor und seine Biografie sowie Bearbeitungen eingegangen wird.
Inhaltsbeschreibung
Ein gut verstecktes Guckloch mit Blick in das Schlafzimmer seiner Mutter gleicht für den kleinen Noboru dem Zugang zum gesamten Universum. Eines Nachts beobachtet der Junge, der für gewöhnlich während der Schlafenszeit eingesperrt wird, wie seine Mutter einen Liebhaber in ihrem Gemach empfängt.
Der Mann heißt Ryuji und ist Zweiter Offizier auf dem Rakuyo-mayo, einem gewaltigen Frachtschiff, das weite Teile Asiens, etwa die Küsten der Philippinen oder Pakistans, besucht. Noboru, den alles rund um das Thema Schifffahrt fasziniert, ist sofort Feuer und Flamme – er glorifiziert den Fremden geradezu, erhebt ihn in seinen Vorstellungen zu einem Helden.
Doch das ändert sich radikal, als Ryuji beschließt, sein Leben als Seemann um der Liebe willen hinter sich zu lassen. Für Noboru und seine Freunde, eine elitäre Clique Heranwachsender, die noch nicht das Alter der Strafmündigkeit erreicht haben, ist das ein mehr als verachtenswerter Verrat. Dem Mann werden, gesammelt in einem Tagebuch, 18 „Verbrechen“ zur Last gelegt, die nach dem Willen des Anführers jener Gruppe, unbedingt gesühnt werden müssen. Eine Tragödie deutet sich an …
Aufbau & Stil
Der 190 Seiten umfassende Gesamtumfang gliedert sich in zwei etwa gleich lange Hälften: Sommer und Winter. Innerhalb dieser beiden Abschnitte finden sich weitere Unterteilungen – rund zehn bis fünfzehn Seiten bilden jeweils ein Kapitel. Illustrationen sind nicht erhalten. Yukio Mishima legt eine auktoriale Erzählweise an und setzt vorwiegend auf Beschreibungen – (innere) Monologe und Dialoge nehmen einen eher untergeordneten Raum ein.
Wie in Bekenntnisse einer Maske und Der Goldene Pavillon besticht der Autor durch eine gehobene Sprache, die sowohl tiefgründig als auch elektrisierend, nahezu spannungsgeladen, ist. Thematisch stehen vor allem Motive wie Sexualität, Ruhm und Ideale – nicht aber wie so häufig der Tod – im Mittelpunkt. Interessierte finden an dieser Stelle eine kostenlose Online-Leseprobe, mithilfe derer sich ein erster Eindruck von der Geschichte und dem Schreibstil verschafft werden kann.
Die Übersetzung von Ursula Gräfe liest sich einwandfrei – über den Verlauf hinweg sind keinerlei Mängel aufgefallen, selbst merklich komplizierte Passagen wurden gemeistert. Das eingangs erwähnte Nachwort rundet die aktualisierte Übertragung, die den modernen Kenntnisstand in Bezug auf Yukio Mishima berücksichtigt, gelungen ab.
Fazit
Mit Der Held der See hat der Schweizer Verlag Kein & Aber eins der wohl bekanntesten Werke Yukio Mishimas – im Original: Gogo no Eiko – neu aufgelegt. Im Gegensatz zu Bekenntnisse einer Maske und Der Goldene Pavillon, die wir ebenfalls in den Mittelpunkt vergangener Besprechungen gerückt haben, scheint der hier vorliegende Titel – zumindest auf den ersten Blick – weniger autobiografisch gefärbt. Gleichzeitig offenbaren sich über den Verlauf hinweg zahlreiche Motive, die für ein erschöpfendes Leseverständnis zwingend analytisch einzuordnen sind: Ruhm und Ehre, Schuld und Strafe, Liebe und Sexualität. Vor allem Letzteres ist typisch für den 1925 geborenen Künstler.
Manga-Fans könnten sich gelegentlich an Die Blumen des Bösen – Aku no Hana erinnert fühlen: Kinder, die moralische wie rechtliche Grenzen bewusst überschreiten, ja, gezielt überschreiten wollen und sich selbst als Zentrum der Welt – als Richter und Götter – betrachten. Auch atmosphärisch finden sich Überschneidungen. Allgemein sind mit Der Held der See aber insbesondere jene gut beraten, die sich für eine vielschichtige Tragödie interessieren.
Klassischer Japan-Flair sollte dagegen trotz des Settings nicht unbedingt erwartet werden – Yukio Mishima flickt nur gelegentlich fernöstliche Elemente ein. Gleichwohl kann der Roman (auch) als Allegorie auf die Nachkriegszeit, ein von dem Autor vielfach behandeltes Sujet, gelesen werden. Kritik gegenüber der Verwestlichung ist ein wiederkehrendes Merkmal in seinen Geschichten – und seiner Politik abseits der Literatur.
Ungleich unserer Review, die aus praktischen Gründen nur ausgesuchte Punkte abdecken beziehungsweise oberflächlich benennen kann, offeriert Der Held der See seiner Leserschaft noch einen viel größeren Fundus, gar einen ganzen Strauß, an zu entdeckenden Inhalten und Stilelementen, deren gesamtheitliche Aufarbeitung sicherlich ganze Seminare oder eine Dissertation füllen könnte. Das anspruchsvolle Publikum laden wir daher ein, ohne weitergehende Beeinflussungen in der Wahrnehmung oder Interpretation selbst an die Lektüre heranzutreten. Für den Preis von 24,00 € wird eine recht qualitative Gegenleistung in Form einer Hardcover-Ausgabe geboten.
Abschließend bedanken wir uns bei Kein & Aber für das Zurverfügungstellen eines Belegexemplars zur Unterstützung unserer Arbeit.