Besprechung zu Atsuhiro Yoshidas „Gute Nacht, Tokio“
Der cass verlag hat Ende 2023 geschlossen. Nachdem wir aus diesem Anlass schon Iori Fujiwaras Der Sonnenschirm des Terroristen, Seiko Itos Das Romanverbot ist nur zu begrüßen, Shugoro Yamamotos Die Rache und Chisako Wakatakes Jeder geht für sich allein vorgestellt haben, rücken wir nun Gute Nacht, Tokio von Atsuhiro Yoshida in den Mittelpunkt.
Hierzulande ist das Werk erstmals im April 2022 auf den Markt gekommen, zuletzt hat der cass verlag die dritte Auflage ausgeliefert. Die rund 190 Seiten an Gesamtumfang sind als Hardcover mit Lesezeichenband gefasst. Um Sterne am Nachthimmel zu imitieren, ist der Schutzumschlag punktuell silbern-reflektierend veredelt. Während die vom cass verlag herausgegebene Version inzwischen als vergriffen gilt, ist die Neuausgabe von hanserblau weiterhin für 22,00 € (Print) beziehungsweise 16,99 (E-Book) erhältlich.
Inhaltsbeschreibung
Japans Hauptstadt schläft nie. Gute Nacht, Tokio erzählt vom Alltag beziehungsweise dem nächtlichen Treiben von verschiedenen Menschen, jeweils beginnend um 1:00 Uhr in der Früh. Begleitet werden unter anderem die Filmrequisiteurin Mitsuki, der Taxifahrer Matsui und die Telefonseelsorgerin Kanako.
Neben ihrer Arbeit wird ein Aspekt aus dem Privatleben der betreffenden Personen thematisiert. Kanako belastet es beispielsweise, dass ihr jüngerer Bruder vor zwölf Jahren ohne ein Wort des Abschieds einfach spurlos verschwunden ist. Und auch der Privatdetektiv Shuro, ein weiterer Nachtschwärmer, ist auf der Suche nach etwas Bestimmtem. Überhaupt: Sie alle werden von etwas umgetrieben.
Viele Geschäfte sind nach Mitternacht nicht mehr geöffnet. So kommt es, dass einige wenige, bis kurz vor Sonnenaufgang (noch) geöffnete Etablissements zu wiederkehrenden Schauplätzen werden – darunter das Taxi von Matsui und das von vier Frauen geführte Bistro „Drehkreuz“. Auch Ibaragi, ein ominöser Laden für als „altes Werkzeug“ bezeichnete Kuriositäten, steht wiederholt im Fokus …
Aufbau & Stil
Der Roman enthält zwölf Kapitel von zwölf bis zumeist sechzehn Seiten Länge. Innerhalb der einzelnen Kapitel sind weitere Unterteilungen vorgenommen – ein zentriert platziertes Sternsymbol trennt die Sinnesabschnitte voneinander ab, damit werden vor allem Wechsel in der Zeit, dem Ort und/oder der Perspektive kenntlich gemacht.
Zentrales Element der von Atsuhiro Yoshida aufgebauten Erzählstruktur sind die fortlaufend rotierenden Sichtweisen, aus welchen heraus das Publikum das nächtliche Geschehen verfolgt. Wenngleich der Filmrequisiteurin Mitsuki, schon bedingt durch ihre einführende Rolle, eine prominente Position zukommt, sind die übrigen Figuren nicht weniger bedeutend. Im Gegenteil: Alle Handlungsstränge verleihen sich wechselseitig Bedeutung. Bis zum Ende ist eine weitreichende Verknüpfung der verschiedenen Schicksale geschaffen.
Der von Katja Busson verantworteten Übersetzung aus dem Japanischen ist gut zu folgen, hinsichtlich der redaktionellen Bearbeitung lässt der Release – wie vom cass verlag gewohnt – ebenfalls wenig Raum für Kritik. Interessierte können mithilfe der kostenlosen Download-Leseprobe einen eigenen Eindruck von dem Titel gewinnen. Der Re-Release von hanserblau scheint (nahezu) identisch.
Fazit
Obwohl Gute Nacht, Tokio als Episodenroman bezeichnet wird, folgt die Handlung einem roten Faden. Die Wege der einzelnen Charaktere sind dabei eng miteinander verwoben. Insofern ist das Ganze vielmehr eine reguläre Fortsetzungsgeschichte mit stetig wechselnder Perspektivübernahme. Vor allem im letzten Drittel werden die zahlreichen Verbindungen deutlich.
Genau deswegen hätte sich unserem Empfinden nach ein Glossar angeboten. Bei der Menge an namentlich bekannter Figuren ist es innerhalb der überschaubaren Gesamtlänge von 190 Seiten recht herausfordernd, den Überblick zu bewahren. Oftmals erschließen sich die exakten Zusammenhänge nicht unmittelbar aus der Namensnennung, sondern erst durch den umgebenden Kontext. Hier ist gegebenenfalls eine zweite Lektüre zu empfehlen – oder Notizen.
Im Groben und Ganzen gefällt Gute Nacht, Tokio trotz dieser kleinen Hürde. Bedingt durch den Aufbau benötigt es aber eine Weile, bis zumindest ein Gefühl von Inhaltstiefe erreicht ist. Ein Großteil der Erzählung plätschert vor sich her, ähnlich wie das vom Slice-of-Life-Segment bei Manga und Anime bekannt ist. Gedankenanstöße sind nur unterschwellig eingebracht, dafür nicht weniger entzückend. Besonders kreativ erscheint uns Atsuhiro Yoshidas Beschreibung von dem erwähnten Ibaragi-Werkzeugladen. Die wird im Gedächtnis bleiben.
Der cass verlag hat diesen Artikel freundlicherweise mit einem Belegexemplar unterstützt.