Besprechung zu Kenji Miyazawas „Eine Nacht in der Milchstraßenbahn“
Der cass verlag für südostasiatische Belletristik und Kriminalliteratur hat Ende 2023 nach über zwei Jahrzehnten seine Pforten geschlossen. Nachdem wir aus diesem Anlass zuletzt schon Werke wie Aufzeichnungen eines Serienmörders, Der Spielplatz der Götter – Eine Familie zieht aufs Land und Gute Nacht, Tokio vorgestellt haben, rücken wir nun Eine Nacht in der Milchstraßenbahn von Kenji Miyazawa (1896 – 1933) in den Mittelpunkt.
Hierzulande ist der Klassiker der japanischen Kinderliteratur im Oktober 2021 auf den Markt gekommen. Für den rund 100 Seiten starken Gesamtumfang, gefasst als Hardcover mit Schutzumschlag, Lesezeichenband und Fadenheftung, ist ein Preis von 22,00 € angesetzt. Eine E-Book-Fassung ist nicht erhältlich. Während die Übersetzung von Dr. Jürgen Stalph (u. a. Das Romanverbot ist nur zu begrüßen) stammt, war Louise Heymans mit der Umschlaggestaltung und den Illustrationen im Innenteil betraut.
Inhaltsbeschreibung
Giovanni gilt als Außenseiter. Seine Familie ist arm – der Vater arbeitet weit entfernt und kommt nur selten nach Hause, die Mutter ist krank ans Bett gefesselt. Nach dem Unterricht verdient der Junge in der örtlichen Druckerei etwas Geld für Brot und Süßigkeiten. Einzig und allein sein bester Freund Campanella, der Sohn des Dottore, gibt Giovanni ein Gefühl von Unterstützung.
Eines Nachts, inmitten der Feierlichkeiten zum Zentaurenfest, finden die beiden auf mysteriöse Weise ihren Weg in die Milchstraßenbahn. Dort reisen Giovanni und Campanella an der Seite allerlei sonderbarer Gestalten durch scheinbar ferne Himmelsgefilde. Wo sie ihre Reise wohl hinführen wird …?
Stil
Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um ein unvollständiges Manuskript, das um 1927 entstanden ist. Über den gesamten Text hinweg finden sich fünf ganz- sowie drei halbseitige Zeichnungen, welche zentrale Passagen herausgreifen und optisch greifbar machen. Illustratorin Louise Heymans hat, passend zum nächtlichen Setting rund um die Milchstraßenbahn, vor allem dunkle Blautöne angelegt. Von der Farbgebung ausgehend erinnert die Ausgestaltung bisweilen an Monet.
Obwohl der Titel zur Kinderliteratur gerechnet wird, ist der Schreibstil keineswegs anspruchslos. Im Gegenteil: Nicht nur Begrifflichkeiten wie Bikonvexlinse oder Magellansche Wolken, sondern auch der stellenweise verschachtelte Syntax dürfte das jüngere Publikum vor Herausforderungen stellen. Gleichzeitig liegt hier der Reiz für Erwachsene – das Werk ist eben kein herkömmliches Märchenbuch, sondern eine universelle Erzählung ohne feste Zielgruppe. Inhaltlich wirken die Schilderungen entschleunigend und schwermütig zugleich. Ebenso schimmern die pädagogisch-philosophischen Gedankenströme Kenji Miyazawas durch.
Hinsichtlich Übersetzung und Lektorat gibt es nichts zu klagen, der cass verlag hat wieder einmal – wie gewohnt – höchste Ansprüche verwirklicht. Interessierte können sich mithilfe dieser Download-Leseprobe selbst einen Eindruck von Eine Nacht in der Milchstraßenbahn verschaffen. Dabei stehen auf fast 30 Seiten vier Kapitel kostenlos zur Verfügung.
Fazit
Kenji Miyazawa erlangte erst posthum – und das mehrere Jahrzehnte nach seinem Tod 1933 – durch den Anime-Film Ginga Tetsudou no Yoru von 1985 Bekanntheit. Heute gelten der Autor und sein Schaffen als feste Größe der japanischen Kinderbuchliteratur. In Eine Nacht in der Milchstraßenbahn erwartet die Leserschaft eine fantastische wie melancholische Geschichte, in der Traum und Realität miteinander verschwimmen.
Bedingt durch den mitunter etwas komplexen Satzbau empfehlen wir für das jüngere Publikum tendenziell keine unbegleitete Lektüre. Für ein möglichst umfassendes Verständnis dürfte es, je nach Alter und individuellem Wortschatz, zumindest externe Begriffserläuterungen benötigen. Vielmehr scheint das Werk zum Vorlesen, das erklärende Einschübe zulässt, geeignet. Erwachsene sind unabhängig davon gut beraten, sofern Grundinteresse an einer realitätsvergessenden Novelle mit folkloristischen Elementen vorhanden ist.
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Buchpräsentation "Eine Nacht in der Milchstraßenbahn" (25.03.2022) | Japanisches Kulturinstitut Köln
Mit 22,00 € ist der Release für unser Empfinden fair eingepreist. Der Kleinverlag cass bietet hier ein Hardcover mit Schutzumschlag und Lesezeichenband, die etwa 100 Seiten sind auf merklich hochwertiges, das heißt reinweißes und rissfestes, Papier gedruckt. Zusätzlich besticht die Veröffentlichung durch fünf ganzseitige Zeichnungen in Vollfarbe, die exklusiv für die deutschsprachige Ausgabe angefertigt wurden.
Der cass verlag hat diesen Artikel freundlicherweise mit einem Belegexemplar unterstützt.